In diskriminierungskritischen Bildungsprozessen machen Menschen, die kaum von intersektionaler, struktureller Diskriminierung betroffen sind, mitunter zum ersten Mal die Erfahrung, dass die vermeintliche Selbstverständlichkeit ihres Sprechens und Handelns hinterfragt und zu anderen Erfahrungswelten, die von Diskriminierung geprägt sind, ins Verhältnis gesetzt wird. Dies löst in aller Regel Schuldgefühle, Verunsicherung, Wut und Hilflosigkeit bei ihnen aus. Sie fühlen sich missverstanden, schließlich können sie nichts für die Verhältnisse, in die sie hineingeboren wurden. Die Leerstellen in ihrem Sprechen und Handeln sind für sie schwer zu fassen, das braucht Übung. Ein Konflikt entsteht, wenn sie in der Lehr-Lernsituation darauf bestehen, hier und jetzt in ihrer Verstörung beruhigt, in ihrer Verletzung getröstet und in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt zu werden. Dadurch findet eine Re-Zentrierung statt, wo es doch um die Bearbeitung struktureller Diskriminierung und die Stärkung betroffener Personen gehen sollte. Insbesondere bei letzteren löst dies entsprechend Frustration aus. Die dann folgende Kritik wird von den von wenig struktureller Diskriminierung betroffenen Personen mitunter als Verbot und als Ausschluss erlebt. Solche Konflikte sind schwer aufzulösen, da sie auf Gewaltverhältnissen basieren, die über viele Jahrhunderte gewachsen sind und fortbestehen. Häufig ist das Resultat der Rückzug von Teilnehmer_innen aus den Lernräumen, weil sie je nach Position den Prozess für zu schmerzlich, zu unproduktiv, zu riskant einschätzen.

Menschen, die von wenig Diskriminierung betroffen sind, können sehr viel tun, um dieser Dynamik entgegenzuwirken: das, was die indische Philosophin G.C. Spivak als »Hausaufgaben machen« bezeichnet. Dazu gehört, anzuerkennen, dass sie aufgrund ihrer Subjektposition kaum oder kein eigenes Erleben zu dem haben, was das »strukturell« vor dem Wort »Diskriminierung« bedeutet. Dies gilt auch für diejenigen, die über ein spezifisches Wissen und eine besondere Sensibilisierung als Mitbetroffene verfügen: als Zeug_innen der Diskriminierung von Freund_innen, Schutzbefohlenen und/oder Partner_innen. Auch Alltagsdiskriminierungen sind ihnen nicht oder kaum »am eigenen Leib« vertraut. Sie können daran arbeiten zu verstehen, dass ihre negativen Gefühle ein temporärer Widerhall dessen ist, womit von intersektionaler Diskriminierung betroffene Personen tagtäglich umgehen, ohne eine Wahl zu haben oder eine Pause davon machen zu können. Dass es sich bei ihren negativen Emotionen also nicht um eine Störung ihres Bildungsprozesses, sondern um einen sehr wichtigen Inhalt desselben handelt, dem es Raum zu geben gilt. Sie können vor diesem Hintergrund aktiv Zurückhaltung üben: In der Verstörung bleiben und sich mit ihr beschäftigen, anstatt von der jeweiligen Umgebung zu erwarten, sie möglichst schnell wegzumachen. Sie können sich gegenseitig im Bildungsprozess unterstützen und ihr wachsendes diskriminierungskritisches Wissen untereinander teilen, anstatt die gesamte Lerngruppe damit zu beschäftigen. Einmal still zu sein, ist für sie nicht gleichbedeutend mit zum Verstummen gebracht worden zu sein. Und schließlich können sie versuchen, ihre Position als Erbe und Verpflichtung zu begreifen: wo dies möglich ist, Platz zu machen, Diskriminierung (gerade auch im eigenen Sprechen und Handeln) wahrzunehmen und zu unterbrechen und an der Umverteilung von Ressourcen mitzuarbeiten.

Fallen Euch Situationen ein, in denen Ihr – von Eurer jeweiligen Subjektposition aus – für andere Platz machen, Diskriminierungen unterbrechen und an der Umverteilung von Ressourcen mitarbeiten könnt?

Hier findet Ihr weitere Querkarten aus der Kategorie »Einwände«:
Laden...
Merkliste PDF