Denker_innen, die sich mit der Befreiung aus Unterdrückungsverhältnissen beschäftigen, fragen nach Methoden der Entwicklung des Willens zu dieser Befreiung. Der martiniquische Psychiater Frantz Fanon beschrieb in seinem Buch Peau Noire, Masques Blancs (Schwarze Haut, weiße Masken) 1952, wie er seine Schwarzen Klient_innen dabei unterstützt, »à conscienciser«: sich den im Rassismus begründeten, unbewussten Wunsch, weiß zu werden, bewusst zu machen und den Willen zur Veränderung sozialer Strukturen wachsen zu lassen. Der brasilianische Befreiungspädagoge Paulo Freire bezeichnete 1970 in Pedagogia do Oprimido (Pädagogik der Unterdrückten) mit »Consciênciação«, einer Wortschöpfung aus »Bewusstsein« und »Aktion«, den Bildungsprozess, koloniale Unterdrückungsverhältnisse und deren Ursachen zu vergegenwärtigen und den Willen zur Veränderung zu entwickeln. Die indische Theoretikerin und Lehrerin Gayatri Chakravorty Spivak schreibt in ihrem Essay Righting Wrongs (Unrecht richten) 2004 von Bildung als einer »unerzwungenen Neuanordnung von Wünschen« (»uncoercive rearrangement of desires«). Diese sei nicht (nur) für die Unterdrückten des globalen Südens, sondern insbesondere auch für Führungseliten und für Akteur_innen des Nordens notwendig. Das Wünschen dieser Gruppen, zum Beispiel in Hinblick auf die Verbesserung von Verhältnissen für sozial Benachteiligte, basiere auf der Nichtzurkenntnisnahme von epistemischer Gewalt. Als Beispiel beschreibt sie, wie im Namen von Menschenrechten eine weiße, bürgerliche und kapitalistisch verfasste Wissens- und Werteordnung weltweit als die einzig richtige durchgesetzt wird. Hier meint die Neuanordnung des Wünschens nicht, auf Menschenrechte verzichten zu wollen, sondern im ersten Schritt die Vormachtstellung der eigenen, bislang unhinterfragt positiven Werte und Lebensweisen auch als Resultat kolonialer Ausbeutungsverhältnisse begreifen zu lernen. Im zweiten Schritt bedeutet es, z.B. nicht mehr das Zentrum der Welt und das Maß aller Dinge sein zu wollen oder nicht mehr zu glauben, genau zu wissen, was für andere gut wäre. An anderer Stelle schreibt Spivak vom »Verlernen von Privilegien«. Das meint nicht, sich der eigenen Privilegien zu schämen, sondern sie als Erbe anzunehmen: die eigene soziale Positionierung und die damit verbundene Verantwortung zu erkennen und zu handeln, ohne marginalisierte Gruppen zu Opfern zu erklären oder als Held_innen zu romantisieren (siehe hierzu auch die Begriffe »White Savourism« und »Exotisierung« im Glossar). Und es meint, die eigenen Privilegien als Verlust zu erfahren, z.B. weil sie bei diesem Bildungsprozess, bei der Neuanordnung des Wünschens, im Weg stehen.

Ihr Beharren auf Komplexität macht, dass ich Spivaks Überlegungen beim Entwickeln des Wunsches nach diskriminierungskritischen Perspektiven an der Schnittstelle von Kunst und Bildung unterstützend finde. Denn dieser Wunsch löst widersprüchliche Handlungsimpulse aus: das Anliegen, nicht paternalistisch zu agieren, und gleichzeitig zur Selbstermächtigung aller Beteiligten beizutragen, wozu je nach Situation auch Wissensvermittlung und die aktive Umverteilung von sozialem und kulturellem Kapital gehören. Den Drang, bei Diskriminierungshandeln zu intervenieren und gegen strukturelle Diskriminierung zu arbeiten; und gleichzeitig die Vorsicht, nicht für andere zu sprechen und den Raum einzunehmen. Das Interesse, minorisiertes Wissen einzubeziehen und gleichzeitig der Wille, dieses nicht auszubeuten und anzueignen. Es ist unerlässlich, sich zu engagieren; aber es nützt nichts, wenn alle Engagierten ausbrennen, weil die Aufgaben groß und unabschließbar und die Strukturen hartnäckig sind. Daher müssen Selbstsorge, die Sorge füreinander und möglicherweise auch Rückzug Teil der eigenen diskriminierungskritischen Praxis sein. Der Wille zur Veränderung resultiert also in einem permanenten Balanceakt. Daher stellt die Fähigkeit, in der Wahrnehmung der eigenen Verstörung zu bleiben und nicht sofort alles durch das eigene Handeln »fixen« zu müssen, ein methodisches Fundament dar, das Übung bedarf.

 

Anregungen für die Recherche

Diese Karte war im Vergleich zu anderen etwas abstrakter und mit einigen theoretischen Konzepten gespickt. Vielleicht habt Ihr Lust, an dieser Stelle die Karte aus dem Set »Einwände« mit dem Titel »Alles zu theoretisch?« zu lesen. In Vorbereitung auf das »Übersetzen«, den dritten Teil des hier initiierten Bildungsprozesses: Blickt auf Eure bisherige Praxis als Lehrende und Lernende an der Schnittstelle von Kunst und Bildung zurück.

Wenn Ihr den Eindruck habt, Ihr müsst noch mehr über diese Konzepte wissen, bevor Ihr die Fragen beantworten könnt, nehmt Euch die Zeit für eine Lektüre aus den angegebenen Hinweisen zu weiterführender Literatur und Links. Schaut auch ins Glossar. Nehmt Euch dafür etwas Zeit, denn dies ist ein unverzichtbarer Baustein in Eurem Bildungsprozess.

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