Musikalische Bildung und Ausbildung sind Bereiche, an denen sich Intersektionalität sehr gut in ihrer Komplexität veranschaulichen lässt. Bis heute bildet der Kanon der europäischen Klassik ihren Schwerpunkt, beim Erlernen von Instrumenten genauso wie beim Zuhören und Verstehen. Seit der Herausbildung des westlichen weißen Bürgertums war sie Teil der moralischen Werteerziehung und der Ausbildung des Habitus dieser Schicht. Sie fungierte als Mittel der sozialen Unterscheidung, gegenüber dem »einfachen Volk«, das dazu aufgerufen war, diesen Musikgeschmack durch Bildung zu erwerben. Bis heute wirkt die Ungleichheitskategorie Klasse weiter; z.B. sind Kinder- und Familienkonzerte nach wie vor machtvolle Instrumente und Aufführungen von sozialer Unterscheidung: Sie haben im sogenannten deutschsprachigen Raum, ähnlich wie Angebote musikalischer Früherziehung, ein vornehmlich weißes, bürgerliches Publikum, nehmen dabei aber für sich in Anspruch, klassische Musik zu demokratisieren. Wenn es um klassische Musik als Berufsfeld geht, greifen zusätzlich Ausschlüsse entlang der Kategorien Geschlecht und sexuelle Orientierung: Die große Mehrheit der Berufsmusiker_innen ist cis-männlich und heterosexuell. Eine weitere intersektionale Achse betrifft die Rassifizierung: die europäische Klassik wurde in den Kolonien ebenfalls kanonisiert und dient daher fast weltweit als Merkmal von vermeintlicher Zivilisiertheit und Kultiviertheit. Daher müssen, so analysiert der englische Musikprofessor Geoff Baker, international gefeierte Projekte musikalischer Bildung wie El Sistema kolonialismuskritisch als Disziplinierungsprojekte betrachtet werden. Bei El Sistema werden sozial benachteiligte Kinder in Venezuela und weiteren Ländern des globalen Südens seit den 1970er Jahren in Orchestern ausgebildet mit dem Ziel, ihre Lebensverhältnisse zu verbessern, moralische Erziehung zu leisten und zur westlichen klassischen Musik hinzuführen. Die existierenden vielgestaltigen, selbstbestimmten musikalischen (Bildungs-)Praxen der jeweiligen Region werden dabei genauso ignoriert wie die Potentiale von translokalen Märkten und Öffentlichkeiten für die entsprechenden Musikstile. Gleichzeitig aber können sich Musiker_innen in Europa, deren Aussehen nicht der somatischen Norm entspricht, in der klassischen Instrumentalausbildung nur unter Widerständen behaupten – auch diejenigen, welche aus wohlhabenden Familien kommen und über viel formale Bildung verfügen. So fanden z.B. die Musikwissenschaftler_innen Shzr Ee Tan und Maiko Kawabata heraus, welche die rassistische Diskriminierung von als »asiatisch« gelesenen Musikstudent_innen untersuchten. Es zeigt sich ein für intersektionale Diskriminierung typischer Double Bind: von den Ge-anderten wird verlangt, dass sie bereit sind, der Norm zu entsprechen und dafür hart zu arbeiten; gleichzeitig wird ihnen diese Entsprechung durch strukturelle Diskriminierung und Alltagsrassismus enorm erschwert.

Eines der wenigen mir bekannten Projekte an der Schnittstelle von Bildung und Kunst, das die intersektionalen Ausschlussmechanismen von klassischer Musik mit zum Thema machte, ist >M< wie made, mania und mehr des Wiener Kollektivs trafo.K. Das Projekt fand 2006 im österreichischen Mozartjahr statt. Lehrlinge unternahmen darin eine kritische Betrachtung des Klassikbetriebs und eine Aktualisierung und Aneignung der Figur Wolfgang Amadeus Mozart. All dies mündete in eine Ausstellung mit eigenen Musik-, Bild- und Textproduktionen der Jugendlichen, die in einem starken Kontrast zu den ansonsten meist affirmativen Beiträgen im Rahmen des Mozartjahrs stand.

Anregungen für die Recherche
  • Kennt Ihr weitere Projekte der Musikvermittlung und/oder musikalischer Bildung, die eine diskriminierungskritische Auseinandersetzung mit westlicher klassischer Musik versuchen? Fügt diese Eurer Sammlung von anregenden Beispielen hinzu.
  • Wie wirken die Achsen sozialer Ungleichheit im Kanon Eures eigenen Tätigkeitsbereichs an der Schnittstelle von Kunst und Bildung zusammen? Welche Auswirkungen hat dies auf Eure Arbeit/Euer Studium? Kennt Ihr Beispiele, die dagegen arbeiten?
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