Üben
Strukturen
doing difference verstehen
Die Idee »Künstlerische Begabung« ist an der Schnittstelle Kunst/Bildung allgegenwärtig: zum Beispiel regulieren Eignungsprüfungen den Zugang zu Studiengängen der Musik, des Theaters und der visuellen Künste. Dabei soll ausschließlich die Begabung der Anwärter_innen über die Aufnahme entscheiden. Forschungen zur Ungleichheit an Kunsthochschulen wie das Projekt Art.School.Differences (2011–2016) aber belegen, dass künstlerische Studiengänge sozial noch exklusiver sind als Studiengänge wie Medizin oder Jura. Insbesondere entlang der Achsen Rassifizierung, Be_Hinderung und soziale Herkunft finden bei den Eignungsprüfungen und auch später im Studium strukturelle Diskriminierungen statt. »Begabung« erscheint im Licht dieser Erkenntnisse als Instrument für habituelle Reproduktion: Ausgewählt werden Kandidat_innen, die der Mehrheit der Studierenden und Lehrenden ähnlich scheinen. Einige wenige davon abweichende soziale Positionen machen die Zusammensetzung dabei augenscheinlich diverser. Jedoch führt dieses eindimensionale Verständnis von Vielfalt nicht dazu, dass sich auch etwas an den Wissens- oder Ausbildungsstrukturen ändert (ein Phänomen, das mit »Tokenism« bezeichnet wird). Beispielsweise bildet ein westliches, bürgerliches Kunstverständnis die Basis für die Werturteile, welche über die künstlerische Arbeit der Studierenden getroffen werden, genauso wie für die Hinweise zu deren Weiterentwicklung. Diese »belohnte Ignoranz« wird gegenwärtig zunehmend in ihrer Begrenztheit deutlich. Studierende nehmen sie nicht mehr widerspruchslos hin, wie zum Beispiel die Masterarbeit Sicht.Bar von Meko Herr an der Kunsthochschule Mainz oder die Bewegung »Decolonize the Curriculum« in England bezeugen. Im Rahmen von studientypischen Lehrformaten wie dem Plenum oder dem Einzelunterricht werden habituelle Normierungen entlang sozialer Ungleichheitskategorien an die nächste Generation weitergegeben. Dies geschieht informell, in einer für das jeweilige Berufsfeld spezifischen Ausformung und ist deswegen besonders schwer zu erfassen und also auch zu bekämpfen. So kann eine Abweichung von Benimmregeln in Verhalten und Aussehen, das in einer klassischen Musikausbildung als inakzeptabel abgewertet werden würde, im Kunst- oder Schauspielstudium zur Anerkennung beitragen. Für »Begabung« scheint in beiden Fällen Insiderwissen förderlich zu sein – über das, was jeweils sozial erwünscht und aufgewertet ist. Künstlerische Ausbildungsgänge sind dabei wegen der beständig verschwimmenden Linien zwischen Werk und Person besonders anfällig für sexistische, rassistische, klassistische, ableistische und lookistische Übergriffe. Auch dagegen organisiert sich zunehmend Widerstand, zum Beispiel 2020 im Think Tank Network Anti-Racist & Anti-Sexist Education for Art Schools.
Ausschlüsse beim Zugang zu künstlerischen Studiengängen geschehen zuweilen auch offen: zum Beispiel, wenn das Studium der visuellen Künste für kognitiv und psychisch von der Norm abweichenden Menschen unabhängig von der Intensität, formal ausgeschlossen wird, wie eine Publikation des Frankfurter Atelier Goldstein aus dem Jahr 2020 beklagt. Oder wenn in den Informationsmaterialien eines Schauspielstudiengangs steht, Voraussetzung sei »körperliche Fitness« – als hätten Menschen im Rollstuhl oder mit chronischen Erkrankungen kein Recht auf ein Schauspielstudium und für den Beruf keine Chance. Betroffene Akteur_innen zeigen das Gegenteil; so werden die Wissensstrukturen der performativen Künste zurzeit wesentlich durch Menschen mit Be_Hinderung erweitert. Kompanien wie Polymora aus Leipzig oder M.A.D. – Mixed Abled Dance aus Wien bieten neben der künstlerischen Produktion auch Weiterbildungen, Workshops in Schulen oder Beratung in Kultureinrichtungen an: Selbstbeauftragte Bildungsarbeit zum »Verlernen« sozialer Unterscheidungen.
- In der Regelschule wird die Abschaffung der Ziffernnoten für den Kunstunterricht mit dem Argument diskutiert, es handele sich um ein »Begabungsfach«. Fallen Euch bessere Argumente ein?
- Welche Rolle spielt »Begabung« in Eurem Arbeits- oder Studienbereich? Was wäre ein diskriminierungskritischer Umgang mit »Begabung«?