»Kanon« kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet »Maßstab, Richtschnur, Regel«. Der Begriff bezeichnet das, was in einer Gesellschaft und in einem Bereich – zum Beispiel im Recht, in den Religionen, in den Künsten – als gültige, wertvolle Wissensbestände und Hervorbringungen anerkannt wird. Ein frühes Beispiel ist der Bibelkanon: Die Festlegung, welche Geschichten und Briefe in das Neue Testament aufgenommen werden sollten, wurde 367 Jahre nach Christus, durch den »Osterfestbrief« des Kirchenvaters Athanasius verbindlich. Andere christliche Überlieferungen heißen seither »Apokryphen« – »apokryph« bedeutet zweifelhaft; nicht zum Gültigen, Anerkannten gehörend; unecht. Das Beispiel veranschaulicht die mächtigen Funktionen des Kanons: Er dient der Institutionalisierung (in diesem Fall der Kirche); er schafft Sicherheit und Orientierung, aber dadurch werden auch Lebendigkeit und Widerstreit in der Traditionsbildung stillgelegt. Kanonbildung passiert durch Ein- und Ausschluss, durch hierarchische Unterscheidungen von »wichtig« und »unwichtig«, »legitim« und »Illegitim«. Darin wirken die intersektionalen Achsen sozialer Ungleichheit, die im Set »Lesen lernen« eingeführt wurden. Kanonbildung war und ist dabei immer umkämpft und umstritten: Was gehört in einen Kanon hinein, und wer bestimmt das?

Es entstehen Erweiterungen des künstlerischen Kanons, z.B. um weibliche, queere, be_hinderte Positionen, um Schwarze Künstler_innen, Künstler_innen of Color und aus dem globalen Süden. Oder es entstehen Gegenkanonisierungen – zum Beispiel gibt es in der kritischen (Kunst-)Pädagogik häufig zitierte Bildungsaktivist_innen-Denker_innen wie bell hooks oder Paulo Freire. Das sind im dominanten deutschsprachigen kunstpädagogischen Kanon unserer Region wenig erwähnte Autor_innen. Zur Zeit werden Akteur_innen wiedergefunden und erforscht, die – aufgrund politischer Verhältnisse ihrer Zeit, aber eben auch aufgrund der Ungleichheitsverhältnisse in der Kanonbildung – für eine Zeit unsichtbar gemacht worden sind. Sie geben Zeugnis, dass in unserem Arbeitsfeld kritische und ermächtigende Praktiken und Wissen schon lange existieren. Eine davon ist Asja Lācis, die mit Bertolt Brecht und Walter Benjamin zusammenarbeitete und in Litauen 1918 ein proletarisches Kindertheater gründete, das auf Mitbestimmung und auf Prozesshaftigkeit setzte. Eine Taktik von vom Kanon Ausgeschlossenen wiederum besteht darin, sich den Kanon subversiv anzueignen, dadurch in seiner Bedeutung zu hinterfragen und zu verändern. Ein Beispiel dafür ist Les Ballets Trockadero de Monte Carlo, eine queere Ballettkompanie, die aus dem Aids-Aktivismus in New York City entstand und das klassische Ballett neu interpretiert. Heute ist das Ensemble international auf großen Bühnen unterwegs, jedoch zeigt ein Dokumentarfilm von 2017, dass ihr subversives und ermächtigendes Moment fortbesteht. Meinen Horizont erweitert zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Materialien besonders die dekoloniale Hinterfragung (und Zurückweisung) von Kanon als Konzept aus einer indigenen Perspektive. Sie zeigt, dass Kanonbildung auf eurozentristischen Verständnissen von Zeit, Wissen, Werk, Wahrnehmung und Wert fußt. Diese Verständnisse sind mächtig und durch die Kolonisierung weltweit herrschend. Aber sie sind nicht die einzigen, die existieren – davon zeugt neben vielen anderen die Arbeit der Unangax̂ Aktivistin, Künstlerin und Professorin in den Erziehungswissenschaften, Eve Tuck.

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