Gemeinsam mit meiner Kollegin Linda Hentschel führte ich 2020 an der Kunsthochschule Mainz eine Lehrveranstaltung mit dem Titel You have multiple choices: Kritische Vermittlung von Kunstgeschichte in der Schule durch. Der Titel war durch das Statement eines Fachleiters inspiriert, er würde mit den Lehramtsanwärter_innen im Fach Kunst zu Beginn des Referendariats einen Multiple-Choice-Test zur Kunstgeschichte durchführen, den nie jemand bestünde. Er wollte zeigen, dass Kunstgeschichte während des kunstpädagogischen Lehramtsstudiums unzureichend vermittelt wird. Wir wollten dagegen mit dem Titel darauf verweisen, dass kunsthistorischer Schulunterricht auch herrschaftskritisch sein kann. Dass die schulischen Lehrpläne zwar Vorgaben machen, aber doch viel Raum lassen: zum Beispiel für feministische, queere, ableismuskritische, klassismus– und kolonialismuskritische Perspektiven auf Kunstgeschichte. Im Seminar lasen wir Texte, die solche Kritiken formulieren, und diskutierten historische und gegenwärtige Beispiele aus kritischer Kunst und Kunstpädagogik. Dabei äußerte eine Teilnehmerin ihre Ratlosigkeit, wie sie Kunst, wie wir sie im Seminar vorstellten, selbst finden sollte: Sie hätte in ihrem Studium bislang nicht gelernt, wie man jenseits des etablierten Kanons recherchiert.

Beides sind anschauliche Beispiele dafür, wie die eigene soziale Verortung auf der Power Flower das Wissen beeinflusst. Der Fachleiter hat als weißer Cis-Mann den hegemonialen kunsthistorischen Kanon auf seiner Seite. Als machtvoller institutioneller Akteur, der die nächsten Generationen Kunstlehrpersonen ausbildet und bewertet, entsteht ihm aus der Ignoranz von seit mehr als 150 Jahren sich ereignenden, vielfältigen Kritiken und damit verbundenen Kunstproduktionen kein beruflicher Nachteil. Es handelt sich um »belohnte Ignoranz«: Das Nichtwissen festigt seine Macht, weil es ihm Sicherheit und Autorität verleiht. Die Frage der – ihrerseits weißen, körpernormierten und mittelschichtigen – Studentin markiert demgegenüber das Kippmoment, das durch diskriminierungskritische Bildung ausgelöst wird: eine Bewusstwerdung über »Privilegien als Verlust«. In ihrem bisherigen Studium war ihr das Fehlen eines Teils des gegenwärtigen und historischen Kunstschaffens nicht aufgefallen, weil sie in dem, was ihr bis dato als Wissen angeboten wurde, zumindest teilweise repräsentiert ist. Durch das Seminar wurde sie auf Leerstellen aufmerksam und erlebt diese nun als für ihre Arbeit als Künstlerin und Lehrerin hinderlich. Sie merkte, dass die privilegierte Position eine starke Horizontbeschränkung zeitigt. Dennoch kann sie sich nach dem Seminar dafür entscheiden, weiterzuarbeiten wie bisher, ohne dass davon für sie ein beruflicher Nachteil zu erwarten ist. Im Gegenteil würde ihr das angesichts der oben geschilderten Haltung des Fachleiters, das Weiterkommen zumindest im Lehrberuf eher erleichtern. Minorisiert positionierte Studierende und Schüler_innen werden sich dagegen der Leerstellen im Curriculum häufig schmerzlich bewusst; sie sind in diesem Fall darauf angewiesen, sich ihr Wissen aus Quellen und in sozialen Netzwerken jenseits des Studiums und Unterrichts zu erarbeiten. Mit der Zeit kennen sie das dominante Wissen und haben darüber hinaus zusätzliches minorisiertes Wissen. Dieses doppelte Wissen wird von der Schwarzen Feministin Patricia Hill Collins als epistemologische Basis von Schwarzen Frauen beschrieben: als Ausgangspunkt, um die Welt zu lesen und zu verstehen und das Handeln auszurichten.

Aus der politischen Wut über die Leerstellen in der Hochschullehre entstehen in den letzten Jahren Bewegungen wie »Warum ist mein Curriculum weiß?« in England. In Deutschland entstanden zeitgleich machtkritische Revisionen der Curricula und Lehrwerke in der Regelschule. In den letzten 25 Jahren sind zunehmend machtkritische Plattformen für internationale Kunst entstanden. Für Deutschland wäre zum Beispiel »Contemporary And (C&)« zu nennen, deren Gründerinnen Julia Grosse und Yvette Mutumba 2020 der Europäische Preis für Kulturmanagement verliehen wurde. Den Horizont über die jeweilige eigene soziale Verortung hinaus zu erweitern, fällt dank solcher Initiativen zunehmend leichter.

Anregungen für die Recherche
  • In den USA der 1960er Jahre entwickelte der Schwarze Kunstlehrer Eugene Grigsby auch einen Multiple-Choice-Test für seine Studierenden, in den er allerdings bereits damals eurozentrismuskritische Perspektiven auf Kunst einbrachte. Kennt Ihr auch (historische) Beispiele, an die Ihr heute bei der kritischen Revision des Kanons anknüpfen könntet?
  • Betrachtet Eure eigene Verortung entlang der Power Flower aus dem Set »Lesen Lernen« in Bezug auf die Kanons, die Euer jeweiliges Arbeits-/Studienfeld betreffen: Schaut Euch zum Beispiel Lehrbücher, Studienpläne oder institutionelle Archive an. Wo tauchen ähnliche Leute auf wie Ihr, wie oft, in welcher Weise? Wie, wie oft, in welcher Weise werden andere Subjektpositionen dargestellt? Was bedeutet das für Euer Selbstverständnis in Eurem Arbeits- und Studienbereich?
  • Recherchiert künstlerische Positionen in Eurem Studium/Arbeitsfeld, die Ihr darin unterrepräsentiert seht. Was kennt Ihr? Was findet Ihr bei der Recherche neu? Macht ein Mapping.
  • Wie verortet Ihr Euch mit Euren Fragen, Eurer beruflichen/lernenden Praxis, Eurer Haltung? Mit wem könnt Ihr Euch verbinden und verbünden? Wen könnt Ihr wie unterstützen?
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