Einführung
Worum geht es hier?
Ziele und Begründungen
Widersprüchlich sind die Tätigkeiten an der Schnittstelle Bildung/Kunst. Auf der einen Seite verheißen sie positive Wirkungen: hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung, der Steigerung von Lernfähigkeit, Leistungsmotivation, Risikobereitschaft, der Befähigung zum problemlösenden Denken oder zum Umgang mit Differenz. Sie legitimieren sich durch die Ermöglichung von Empowerment, politischer Handlungsfähigkeit, individueller Entfaltung, kollektiver Mitwirkung und sozialen Zusammenhalts. Auf der anderen Seite zeigen machtkritische Studien, dass in der Bildungsarbeit in den Künsten und durch die Künste selbst auch soziale Ausschlüsse verstärkt und Herrschaftsverhältnisse hergestellt werden. Es handelt sich um Werkzeuge zur sozialen Unterscheidung und Anpassung sowie zur Herausbildung und Kennzeichnung von gesellschaftlichen Eliten. Ideen, wie dies zu verändern sei, sind so alt wie Kunst und Bildung selbst. Dennoch bestehen diese Gewaltverhältnisse in der Gegenwart fort. Angesichts dessen gibt es keine unpolitische Art und Weise, die Arbeit an der Schnittstelle von Bildung und Kunst zu betreiben. Es ist notwendig, eine Haltung einzunehmen und diese begründen zu können.
Die mit diesen Bildungsmaterialien angestrebte Ausbildung von diskriminierungskritischen Haltungen und Perspektiven soll Euch dabei unterstützen, Eure Arbeit auf einer diskriminierungskritisch informierten Basis, aufmerksam für Machtverhältnisse, einfallsreich für soziale Gerechtigkeit und so wenig gewaltvoll wie möglich zu entfalten. Bei der Auseinandersetzung mit den Materialien sollen im besten Fall konkrete Ideen dazu entstehen, wie Ihr Eure Arbeit unter den Vorzeichen der Diskriminierungskritik weiterentwickeln könnt.
Als Autorin der Materialien vertrete ich die Position: Diskriminierungskritik sollte als Querschnittsaufgabe von Bildungsarbeit innerhalb und außerhalb der Schule in allen Disziplinen begriffen werden. In jedem Bereich gibt es spezifische Aspekte, die beachtet und spezifische Potentiale, die in diskriminierungskritischer Perspektive realisiert werden können. So gibt es auch Eigenschaften der Schnittstelle Kunst/Bildung, die große Potentiale bergen:
- Es handelt sich bei der Schnittstelle Kunst/Bildung um einen Bereich zur reflektierten Arbeit an und mit Zeichen: an Bildern, Klängen, Bewegung, Objekten, räumlichen Anordnungen, Worten. Nachdenken und Emotionen, alle Sinne sind in den Künsten angesprochen und herausgefordert.
- Es handelt sich um einen Bereich, in dem etwas hergestellt wird, um es anderen zu zeigen.
- Und damit handelt es sich um einen Bereich, in dem das Wahrnehmen und Interpretieren des Gezeigten geübt wird. In den Künsten geht es dabei insbesondere um die Vieldeutigkeit und Deutungsoffenheit von Zeichen, aber auch darum, wie machtvoll sie sein können.
- In der Bildungsarbeit mit den Künsten wird das Arbeiten an Selbstartikulationen, individuell und kollektiv, stark betont.
Die oben erwähnten Versprechen positiver Wirkungen sind daher nicht einfach falsch, sondern sie bedeuten jeweils etwas anderes, je nachdem, von welchem politischen Standpunkt aus sie betrachtet werden. Die Arbeit an der Schnittstelle von Bildung und Kunst ist Mittel und Aushandlungsort für die Gestaltung von Gesellschaft. Es handelt sich einerseits um das wichtige Wirken im Symbolischen, an Repräsentationen: Wer zeigt von welcher Position aus etwas. Über wen und über was, auf welche Weise? Wer schaut von welcher Position aus auf welche Weise hin und erkennt dabei was?
Andererseits finden sich im künstlerischen Feld auch Ressourcen die im Rahmen einer diskriminierungskritischen Bildungsarbeit geschaffen, gewonnen, besetzt und umverteilt werden. Dazu gehören zum Beispiel Ausdrucksmittel für eigene Anliegen, für die Herstellung von Öffentlichkeiten, Wissen, Räume, Gemeinschaft und zuweilen auch Jobs und Geld. Das konkrete, aktive Eingreifen in soziale und politische Verhältnisse oder die Veränderung der eigenen Situation stellen künstlerische Bildungsinhalte dar.
Die Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen, die Herstellung von selbstbestimmten Repräsentationen – das sind Möglichkeiten künstlerischer Bildungsarbeit, die nicht von selbst Wirklichkeit werden, sondern um deren Einlösung es sich unbedingt zu ringen lohnt. Diese Bildungsmaterialien wurden entwickelt, um dieses Ringen anzuregen und zu unterstützen.
Was heißt das?
Rahmungen
Was heißt »Schnittstelle Bildung/Kunst«?
Die Formulierung »Schnittstelle Bildung/Kunst« benutze ich hier als Schirmbegriff. Ich bezeichne damit alle Bereiche der Bildungsarbeit in, mit und durch die Künste: z.B. Kunst-, Musik- und Theaterunterricht in der Schule, kulturelle Bildung in- und außerhalb von Institutionen, Kunst im sozialen Kontext, künstlerische Ausbildung oder Vermittlungsarbeit in Kultureinrichtungen.
Was heißt »diskriminierungskritische Perspektiven«?
Welches Wissen bestimmt das Handeln, mit welcher Brille wird die Welt gelesen, was bedeutet Wille zur Veränderung? Welches Wissen brauchen wir und welche Haltungen und Handlungen können wir entwickeln, durch welche Brillen müssten wir die Welt lesen, wenn wir aktiv an einer Unterbrechung von Dominanzverhältnissen an der Schnittstelle von Kunst und Bildung arbeiten wollen? Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen knüpfe ich an »Critical Diversity Literacy« (CDL) an. Dieses Konzept wurde zuerst im Jahr 2007 von der weißen südafrikanischen Kommunikationswissenschaftlerin Melissa Steyn veröffentlicht.
»Critical Diversity Literacy« übersetze ich als »Diskriminierungskritische Lesefähigkeit« ins Deutsche. Melissa Steyn und ihr Team haben Indikatoren formuliert, die eine diskriminierungskritische Lesefähigkeit ausmachen:
- Verstehen, dass Differenzkategorien wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, Be_Hinderung, Klasse und Rassisiertheit gelernt und sozial hergestellt sind.
- Verstehen, was Intersektionalität ist, also das Zusammenwirken dieser Kategorien bei der Herstellung von Ungleichheit erkennen können.
- Verstehen, was vor diesem Hintergrund Privilegiertheit ist. Auf dieser Grundlage eine kritische Selbstverortung vornehmen können.
- Den Willen zur Veränderung hin zu mehr Gerechtigkeit entwickeln.
- Über eine Sprache verfügen, Begriffe kennen, um Ungleichheit und Herrschaftsverhältnisse benennen zu können.
- Hegemoniale Adressierungen erkennen und entschlüsseln können.
- Verstehen, was die Kontinuitäten von historisch gewachsenen Herrschaftsverhältnissen in der Gegenwart sind.
(Die Anzahl der Indikatoren sowie deren Reihenfolge wurde von mir angepasst.)
Melissa Steyn beschrieb im Jahr 2017 in einem Gespräch mit mir CDL als »scharf geschliffene Linse« für eine Brille, mit der die Welt gelesen wird; als »Set von Praktiken«; als »Lesepraxis« und als »Befähigung«.
Ich mag CDL aus mehreren Gründen: Das Wort »Literacy«, Lesefähigkeit, trägt als Voraussetzung die Idee der Alphabetisierung in sich. Da steckt drin, dass eine diskriminierungskritische Haltung erlernt werden kann. Das ist an sich schon ermächtigend. Und darum soll es in diesen Bildungsmaterialien gehen: um eine diskriminierungskritische Alphabetisierung und um‘s miteinander Üben. CDL beruht auf einem Konzept von Literacy, bei dem Lesefähigkeit sich nicht in individuellen Köpfen allein, sondern gemeinsam mit anderen und in Auseinandersetzung mit der sozialen Welt entwickelt.
Dann mag ich, dass den Begriffen »Literacy« und »Diversity« das »Critical« voransteht. Denn »Literacy« steht allzu häufig für das Versprechen der eindeutigen und durch Tests zu gewährleistenden Überprüfbarkeit von Lerninhalten. »Diversity« wiederum wird in Institutionen zumeist als leicht zu habende, auch ökonomische Bereicherung gepriesen. Die Konflikte und vor allem die grundsätzlichen Veränderungen, die damit einhergehen, dafür benötigte Zeit und Geld werden dabei kaum berücksichtigt. Genausowenig wird dabei in den Blick genommen, dass es um Umverteilung von Macht und Ressourcen, das heißt, auch um Verzicht und Verlernen geht, wenn Diversität strukturell verstanden wird.
Die mit CDL verbundene Machtkritik wirkt sich demgegenüber, wenn sie ernst genommen wird, auf alle Dimensionen eines Bildungs- oder Arbeitszusammenhanges aus: auf die Strukturen, die Handlungsweisen, die Inhalte und die Personen. Bei der Auseinandersetzung mit CDL handelt sich, um es mit den Worten des Schwarzen Schriftstellers James Baldwin auszudrücken, um »das Ende von Sicherheit«.
Statt zu fragen »wir brauchen Vielfalt, wo kriegen wir bloß die Anderen her? Aber bitte ohne etwas abgeben oder verändern zu müssen!« fragt eine diskriminierungskritische Perspektive: »Was muss sich an unseren eigenen Strukturen, Inhalten, Verhaltens- und Sprechweisen, an der Verteilung unserer Ressourcen ändern, damit Menschen aus marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen hier gerne und gut tätig sein können?«
Schließlich finde ich, CDL ist gut als roter Faden geeignet, um bei der komplexen Aufgabe, die Arbeit an der Schnittstelle Bildung/Kunst diskriminierungskritisch zu gestalten, die Orientierung zu behalten. Der Indikatorenrahmen macht diese Aufgabe zugänglich, ohne die Illusion zu vermitteln, ihre Komplexität sei reduzierbar und ihre Erfüllung sei garantiert.
Wie sieht es aus und was ist drin?
Inhalt, Struktur und Schreibweisen
Die Bildungsmaterialien bestehen aus:
- Diesem Einführungstext
- Dem Lernkartenset Lesen Lernen
- Dem Lernkartenset Üben
- Dem Praxisleitfaden Übersetzen
- Den Querkarten mit jeweils einem Set Innehaltenkarten, Aktivitätskarten, Einwändekarten und Zitatkarten
- Den Anschauungsmaterialien Proben und Vignetten
- Dem Geteilten Wissen aus dem diskriminierungskritischen Netzwerk, aus Gesprächen, Reflexionswerkstätten und mit vertiefenden Texten von mir
- Einer umfassenden Materialdatenbank mit Literatur und Links
- Dem Glossar
- Den Biografien aller Autor_innen und Beteiligten
- Der Bastelanleitung, in der wir von der Herstellung der Druckversion dieses Materials berichten.
- Und dem Dank an die vielen Unterstützer_innen und Mitwirkenden – denn diskriminierungskritische Perspektiven entwickelt niemand alleine.
Das erste Lernkarten-Set mit dem Titel »Lesen Lernen« führt acht Indikatoren für diskriminierungskritische Lesefähigkeit ein. Die Karten ermöglichen durch Erläuterungen und erste Übungen eine Annäherung an die Frage, welche Bedeutung diese Indikatoren für die Arbeit an der Schnittstelle Kunst/Bildung haben. Die selbstkritische Auseinandersetzung mit der jeweils eigenen intersektionalen Verortung im sozialen Raum, mit der eigenen Berufs- und Bildungsbiografie ist ein unverzichtbarer Bestandteil des diskriminierungskritischen Lesenlernens.
Zu jedem Indikator diskriminierungskritischer Lesefähigkeit finden sich auf der Website neben den Lernkarten ergänzende Materialien für diejenigen unter Euch, die Ihre Beschäftigung vertiefen möchten. Sie sind auch als Unterstützung gedacht, zum Beispiel wenn Ihr das Kartenset »Lesen Lernen« selbst in einer Lehrveranstaltung oder Weiterbildung einsetzen wollt. In diesem Fall könntet Ihr aus den weiterführenden Materialien Lernstationen zu den einzelnen Indikatoren diskriminierungskritischer Lesefähigkeit anbieten. Diese Materialien wurden von Danja Erni für Euch zusammengestellt.
Um die diskriminierungskritische Lesefähigkeit, die Entwicklung eines diskriminierungskritischen Vokabulars und die Fähigkeit zum Entwerfen von Handlungsmöglichkeiten zu trainieren, bietet das zweite Lernkarten-Set unter dem Titel »Üben« ein Orientierungsraster an. Dieses besteht aus drei ineinander wirkenden Dimensionen, die unser Arbeits- und Lernfeld bestimmen:
- Kanon: Welche Konsequenzen hat eine diskriminierungskritische Perspektive auf die Inhalte unserer Arbeit?
- Methoden: Welche Konsequenzen hat eine diskriminierungskritische Perspektive für unsere Methoden?
- Strukturen: Welche Arbeits- und Lehr-Lernverhältnisse brauchen wir dafür?
Diese drei Dimensionen (und ihr Zusammenwirken) werden in Hinblick auf die acht Indikatoren für diskriminierungskritische Lesefähigkeit ausbuchstabiert.
Weitere Beispiele zur Diskussion, Inspiration, Veranschaulichung und zum Entwerfen von Problemlösungen finden sich in den »Proben« und den »Vignetten«. Unter dem Titel »Proben« werden bereits bestehende Versuche diskriminierungskritischer Arbeit an der Schnittstelle Bildung/Kunst vorgestellt; unter dem Titel »Vignetten« wiederum werden häufig auftauchende Problemszenarien beschrieben, anhand derer eigene Perspektiven und mögliche Umgangsweisen und Lösungswege diskutiert werden können.
Die »Innehaltenkarten«, »Einwändekarten«, »Bewegungskarten« und »Zitatkarten« können quer zu den Sets »Lesen Lernen« und »Üben« gelesen werden. Die »Innehaltenkarten« und die »Einwändekarten« dienen der Reflexion von Aspekten, die bei der diskriminierungskritischen Arbeit an der Schnittstelle Bildung und Kunst immer wieder Probleme bereiten. Mit den »Bewegungskarten« habe ich versucht, den Körper in den Bildungsprozess hineinzuholen, und mit den »Zitatkarten« möchte ich diese Bildungsmaterialien mit Akteur_innen, die mir durch ihre Arbeit Kraft geben und Vorbild sind, verknüpfen.
Unter dem Titel »Übersetzen« schließlich findet Ihr eine schrittweise Anleitung, Eure in der Auseinandersetzung mit den Bildungsmaterialien entstandene und geschärfte diskriminierungskritischen Lesefähigkeit in die eigene Praxis zu übersetzen, um eine diskriminierungskritische Veränderungsarbeit zu versuchen.
Hier auf der Website finden sich neben den bereits genannten vertiefenden Materialien auch zahlreiche Texte, in denen diskriminierungskritisches Erfahrungswissen aus der Arbeit an der Schnittstelle Bildung/Kunst weitergegeben wird. Diese Beiträge stammen von mir und von Autor_innen, die in den vergangenen Jahren mit mir gemeinsam in diskriminierungskritischen Bildungsangeboten und Reflexionswerkstätten gearbeitet haben und/oder mich in meiner eigenen, immerwährenden Suche beraten und unterstützt haben. Sie stammen darüber hinaus von weiteren eingeladenen Autor_innen, die gegenwärtig unverzichtbare Beiträge zu diskriminierungskritischen Perspektiven an der Schnittstelle Kunst/Bildung leisten.
Eine Datenbank mit einer Sammlung von bestehenden Angeboten, Handreichungen und Materialien zur diskriminierungskritischen Bildungsarbeit ist ein weiterer Bestandteil der Website. Die Datenbank wurde von Christiane Jaspers, Như Ý/Linda Nguyễn und Stefan Bast erarbeitet, den wissenschaftlichen und studentischen Mitarbeiter_innen, die an diesen Bildungsmaterialien mitgewirkt haben. Sie haben alles gelesen, Rezensionen dazu verfasst und Schlagwörter für die Suche generiert, um Euch in der großen Zahl der Möglichkeiten die Orientierung zu erleichtern und Hilfestellung bei der Auswahl zu geben. Von ihnen stammt auch das Glossar. Darin werden Fachbegriffe und Konzepte, die in den Bildungsmaterialien verwendet werden, erklärt. Dabei werden häufig bereits vorhandene Formulierungen aus den vielen diskriminierungskritischen Glossaren verwendet, die in den letzten Jahren veröffentlicht worden sind. Zu Begriffen, bei denen sich keine geeignete Formulierung finden ließ, gibt es eigene Einträge.
Eine kurze Erläuterung zu den Schreibweisen:
In diesen Bildungmaterialien steht »weiß« kursiv, um darauf hinzuweisen dass es sich um eine machtvolle soziale Position handelt. »Schwarz« ist großgeschrieben, um auf die gleichlautende Selbstbezeichnung der Emanzipationsbewegungen Schwarzer Menschen zu verweisen. Be_hindert erscheint mit Unterstrich, um bei jeder Verwendung das Bewusstsein aufzurufen, dass es sich dabei um eine soziale Zuschreibung handelt, die sich an Körper- und Verhaltensnormen orientiert. Der Unterstrich bei der Schreibung von Geschlecht wiederum macht Platz für alle Geschlechter.
Das bedeuten die Unterstreichungen:
Ihr seht verschiedene Unterstreichungen in den Texten. Die gepunktete Unterstreichung bedeutet einen Verweis auf das Glossar. Eine wellenförmige Unterstreichung enthält einen Verweis auf die Material-Datenbank. Und eine durchgezogene Unterstreichung ist ein Verweis innerhalb dieser oder auf eine andere Webseite.
Wer ist »Wir«?
Angesprochene
CDL, das Konzept, an dem ich mich orientiert habe, wurde von einer weißen Kommunikationswissenschaftlerin entwickelt. Das Bildungsmaterial ist entsprechend durch eine kritisch-weiße Perspektive geprägt. Es richtet sich in erster Linie an Arbeiter_innen an der Schnittstelle Kunst/Bildung – viele davon sind weiß, formal gebildet und mit symbolischem Kapital ausgestattet.
Es handelt sich hier also nicht unmittelbar um Material für Personen mit wenig formaler Bildung und/oder zum Selbst-Empowerment für Black, Indigenous und People of Color (BIPoC) (insbesondere letzteres könnte ich als weiße Person nicht verfassen). Aber es ist mein Anspruch, dass Menschen, die beispielsweise von rassistischer, antisemitischer, ableistischer, lookistischer, sexistischer und/oder klassistischer Diskriminierung, von Queer- oder Transfeindlichkeit betroffen sind, genauso mit dem Material lernen und dabei zu neuen Erkenntnissen kommen können.
Alle Texte, Fragen und Übungen so zu formulieren und Beispiele und Zitate so auszuwählen, dass möglichst viele unterschiedliche Menschen damit lernen können, war eine große Herausforderung für mich. Deshalb habe ich an vielen Stellen Kolleg_innen um Rat gefragt, deren Anregungen in die jetzige Fassung eingeflossen sind. Dafür schon einmal an dieser Stelle ein großes Dankeschön!
Wer ist nicht »Wir«?
Ausschlüsse
Diese Bildungsmaterialien sind in Hinblick auf das Maß an Zeit, welches für die Auseinandersetzung mit ihnen notwendig ist, herausfordernd. An jeder Stelle vermitteln sie, dass diskriminierungskritische Lesefähigkeit nicht einfach zu haben und verfügbar ist. Sie laden dazu ein, die Komplexität und Vieldeutigkeit des Sozialen an der Schnittstelle Kunst/Bildung anzuerkennen und als Aufgabe zu begreifen. Deswegen sind sie darauf angewiesen, dass die Lernenden die Fähigkeit und Bereitschaft zur Reflexion und Selbstreflexion mitbringen. Genauso fordern sie von ihnen ein hohes Maß an Selbstorganisation und Strukturierung beim Entwickeln der eigenen Lernwege und Vertiefungen.
Auch wenn ich mich bemüht habe, die Körper einzubeziehen, sind diese Bildungsmaterialien doch sehr wortsprachlich ausgerichtet und anspruchsvoll durch die Verwendung von Fachkonzepten und Fremdwörtern.
Das führt zu Ausschlüssen, für Menschen mit wenig akademischer Bildung, für diejenigen, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, oder auch für Menschen mit kurzen Konzentrationsspannen oder geringer kognitiver und/oder emotional-sozialer Belastbarkeit.
Wichtig ist auch zu bedenken: Die Beschäftigung mit diesen Bildungsmaterialien ersetzt keine systematische diskriminierungskritische Organisationsentwicklung. Die Entscheidung für eine solche kann jedoch ein mögliches Ergebnis dieser Beschäftigung sein. Hinweise für entsprechende Anbieter_innen finden sich in der Datenbank.
Die Bildungsmaterialien eignen sich nicht für Personen mit unvereinbaren konzeptuellen und erkenntnistheoretischen Standpunkten, beispielsweise für solche, die das Konzept der Intersektionalität grundsätzlich als unbrauchbar zurückweisen. Schließlich richten sich diese Bildungsmaterialien nicht an Menschen, deren Weltanschauung ein bejahendes Verhältnis zu sozialer Diskriminierung beinhaltet, denn sie sind nicht dafür ausgelegt, solche Menschen zum Umdenken zu bewegen.
Wie geht es, und geht es jetzt endlich los?
Bedienungsanleitung
Ein Lerntagebuch anlegen:
Ein Lerntagebuch soll Euch ermöglichen, Euren eigenen Lernprozess aufzuzeichnen, damit Ihr im Verlauf auf ihn zurückblicken könnt. Gleichzeitig entstehen beim Führen eines Lerntagebuchs auch neue Erkenntnisse und Perspektiven. Es kann digital, analog oder in einem Mix aus beidem geführt werden, je nach Vorlieben und Können. Haltet darin Eure aus der Auseinandersetzung resultierenden Überlegungen fest, zum Beispiel in Form von Texten, Zeichnungen, Collagen, Zitaten, verlinkten Videos – viele Medien und Formen sind möglich. Richtet bei Euren Aufzeichnungen ein besonderes Augenmerk auf Widerstände, Blockaden, Hemmschwellen, Irritationen, Verwirrungen und Nichtwissen, aber auch auf das, was Euch Energie gibt, inspiriert und Freude macht. Nehmt wahr: Warum seid Ihr von manchen Beispielen angesprochen und warum könnt Ihr mit anderen nichts anfangen? Notiert Eure aus der Auseinandersetzung mit den Bildungsmaterialien resultierenden Fragen. Sie sind ein zentrales Ergebnis Eurer Beschäftigung. Sie begleiten Euch in Eurem weiteren diskriminierungskritischen Bildungsprozess.
Überblick und ein erstes Verständnis gewinnen:
Schaut Euch zunächst die Bildungsmaterialien in Ruhe durch. Dabei geht es nicht darum, die ganze große Fülle genau zu lesen, sondern stichprobenartig hineinzulesen, um die Materialien kennenzulernen. Wenn Ihr in einer Gruppe arbeitet, diskutiert nach der ersten Übersicht Eure ersten Eindrücke untereinander: worüber seid Ihr gestolpert, was hat Euch angesprochen und warum? Notiert bereits aus dieser ersten Durchsicht Eure Fragen, Irritationen und Widerstände in das Lerntagebuch – und auch, worauf Ihr Euch besonders freut und worauf Ihr Lust bekommen habt. Nutzt Eure Möglichkeiten zur Klärung von Begriffen und Konzepten, die Euch gleich aufgefallen sind, vielleicht weil sie Euch nicht vertraut sind. Zu vielen findet Ihr Erklärungen im Onlineglossar. Versucht einzeln oder gemeinsam, der Bedeutung auf die Spur zu kommen.
Zeit planen:
Schaut auf die erste Durchsicht zurück: Wie lange habt Ihr dafür gebraucht? Waren es ein paar Stunden oder, wenn Ihr die Zeit, die Ihr damit verbracht habt, zusammenzählt, vielleicht sogar mehrere Tage? Habt Ihr Euch irgendwo festgelesen, seid Ihr hängengeblieben oder habt Ihr alles einigermaßen gleichmäßig und zügig durchgeschaut? Ist Euch die Lektüre leicht- oder eher schwergefallen – und woran lag das? Jede Person, jede Gruppe wird unterschiedlich lange für diese erste Durchsicht gebraucht haben – das hat nicht nur mit den unterschiedlichen individuellen Zugängen zu so einer Aufgabe, mit unterschiedlichen Lesegeschwindigkeiten und Vorwissen zu tun, sondern vor allem auch mit den zu Verfügung stehenden Ressourcen an Zeit, Energie und Freiraum.
Die Zeit, die Ihr für die erste Durchsicht benötigt hat, kann Euch Hinweise darauf geben, wie Ihr mit dem Material werdet arbeiten können, wieviel Planung Ihr dafür benötigt. Macht Euch, individuell und gegebenenfalls in Eurer Gruppe klar, wann Ihr in Euren Alltag Zeit für die Arbeit mit den Bildungsmaterialien einbauen könnt.
Behaltet diese auch während der Weiterarbeit im Blick, denn nicht alles lässt sich gleich zu Beginn offen aussprechen. Berücksichtigt die unterschiedlichen Voraussetzungen bei Eurer Zeitplanung, passt diese im Verlauf wenn nötig an. Diskriminierungskritische Bildungsarbeit ist kein Wettrennen und kein Wettbewerb.
Im ersten Set »Lesen Lernen« findet Ihr auf den Karten meine Empfehlungen für ein Zeitminimum, das Ihr für eine jeweilige Übung einplanen solltet. Sie resultieren aus meinen eigenen Erfahrungen. Ihr könnt aber auch selbst einschätzen, wie lange Ihr für die Durchführung brauchen werdet.
Wünschenswert ist, dass Ihr im Set »Lesen Lernen« keine Übungen komplett auslasst; die Reihenfolge kann aber wechseln.
Das zweite Set »Üben« hat eine offene Zeitstruktur. Ihr könnt Euch in die verschiedenen Beispiele vertiefen und davon zu Diskussionen und Selbstreflexionen auf die eigene Arbeit anregen lassen. Genau wie bei anderem Können, das eine_r vertieft, oder Wissen, das eine_r erweitert, geht es hier weniger um ein zügiges Durcharbeiten, als darum, das Material regelmäßig zur Hand zu nehmen und sich damit zu beschäftigen. Daher plant – entweder allein oder in der Gruppe – eine Phase, in der Ihr dies regelmäßig tut. Wenn Ihr in einer Gruppe seid, könnt Ihr die Beschäftigung mit den einzelnen Beispielen auch untereinander aufteilen und sie Euch bei Euren Treffen gegenseitig vorstellen und analysieren, um dann gemeinsam Handlungsszenarios zu diskutieren. Alle Übungen und Fragen können im Zuge der Arbeit mit den Bildungsmaterialien variiert und angepasst werden.
Für die unter der Überschrift »Übersetzen« vorgeschlagene Veränderungsarbeit solltet Ihr je nach Vorhaben sechs bis zwölf Monate veranschlagen. Es geht darum, die eigene Situation zu analysieren und punktuell zu verändern – das ist anspruchsvoll und benötigt Zeit. Ihr solltet mit dem Übersetzen beginnen, wenn Ihr an dem Punkt seid, an dem Ihr auf eine intensive Auseinandersetzung mit den Sets »Lesen lernen« und »Üben« zurückblickt. Vielleicht zeigt sich das daran, dass Euer erstes Lerntagebuch vollgeschrieben ist, und Ihr für »Übersetzen« ein Neues öffnet, oder daran, dass sich Geschichten über die Auseinandersetzung mit den Sets »Lesen Lernen« und »Üben« gebildet haben, an die Ihr Euch erinnert. Vor allem aber zeigt es sich daran, dass Euch auffällt, dass Ihr in Eurem Alltag und Arbeitsalltag stärker als zuvor für die Wahrnehmung von Diskriminierungen sensibilisiert seid und sich dies vielleicht auch schon manchmal in Eurem Handeln niederschlägt.
Und was, wenn es knallt?
Spielregeln
Die Entwicklung einer diskriminierungskritischen Lesefähigkeit ist mit emotionaler Arbeit verbunden. Hier kommen einige Regeln, die Ihr – unabhängig davon, ob Ihr alleine oder in einer Gruppe mit diesen Bildungsmaterialien arbeitet – unbedingt beachten solltet.
Kein Erledigungszwang:
Es muss nicht alles erledigt werden, es geht nicht darum, durch die Übungen und Beispiele »durchzukommen«. Falls Ihr in einer Gruppe arbeitet: Alle entscheiden selbst, ob und wann sie lieber allein oder lieber in der Gruppe arbeiten und ob und wann sie etwas mitteilen möchten. Niemand muss Fragen beantworten oder bei einer Übung mitmachen.
Gewaltsensibles Sprechen und Schweigen:
Es gibt Konflikte, die innerhalb der diskriminierungskritischen Lernsituation nicht immer auflösbar sind. Sie resultieren aus – historisch gewachsenen und weiterhin wirkmächtigen – Gewaltverhältnissen, die alle sozialen Situationen durchdringen. Ihre Bearbeitung übersteigt möglicherweise Eure momentanen Reichweiten oder Kapazitäten. Daher kann es in bestimmten Momenten notwendig sein, solche Konflikte und daraus resultierende Ratlosigkeit erst einmal stehen zu lassen, damit eine Weiterarbeit mit den Materialien trotz bestehender Differenzen in den Positionen und Erfahrungen möglich werden kann.
Sprachlosigkeit, wenn sie entsteht, solltet Ihr wenn möglich ernst nehmen und ihre Berechtigung anerkennen. Sprachlosigkeit kann eine Chance sein, sich selbst und den anderen zu begegnen, anstatt hektisch etwas zu tun, eine Lösung oder ein Rechthaben finden zu müssen. Ein Element diskriminierungskritischer Lesefähigkeit ist, eine Weile mit dem eigenen Unbehagen zusammenbleiben zu können, anstatt dieses rasch mit Handlungen zu überdecken.
Wenn sich in einer Lerngruppe Menschen mit ähnlichen Diskriminierungserfahrungen befinden, so kann es mitunter sinnvoll sein, wenn diese sich bei manchen Übungen in einer Kleingruppe zusammenfinden, die Übungen gemeinsam machen und dabei besprechen, was die Übung für sie bedeutet.
Sorgfältiger Umgang mit der Lernsituation:
Bevor Ihr mit der Durchführung beginnt, legt eine Sammlung zu der Frage an, was Ihr braucht, um gut lernen zu können. Zum Beispiel:
- Habt Ihr Pausen und Möglichkeiten für körperliche Bewegung zwischendurch eingeplant? Gibt es genug zu trinken? Was trägt zu einer konzentrierten Atmosphäre bei? Sollten Mobiltelefone für bestimmte Zeitabschnitte ausgestellt werden?
- Habt Ihr genug Verarbeitungszeiten für den Umgang mit Euren Emotionen vorgesehen? Gibt es solidarische Kolleg_innen, die Euch zuhören und mit Euch zusammen nachdenken, falls Euch im Lernprozess etwas stark beschäftigt?
- Wenn Ihr in einer Gruppe arbeitet: Beginnt Ihr gemeinsam und macht gemeinsam Pause oder sollen alle kommen und gehen können, wann sie möchten? Habt Ihr Momente geplant, um darüber zu reflektieren, wie Ihr als Gruppe funktioniert und ob das gut so ist? Kennt Ihr z.B. Methoden, die Sprecher_innenhierarchien während Diskussionen in der Gruppe in Bewegung bringen?
- Wenn Ihr beschlossen und eingerichtet habt, was für die Herstellung einer den Prozess unterstützenden Situation in Eurem Fall möglich und nötig ist, dann legt los.
Jetzt kann’s losgehen!
Zur Einstimmung
Ihr habt in dieser Einführung nun schon ein wenig über Critical Diversity Literacy erfahren, und eine erste Ahnung bekommen, worum es sich dabei handelt.
Erinnert Euch an eine konkrete Situation aus Eurem Berufsleben oder Eurer Ausbildung, bei der Ihr Critical Diversity Literacy gut hättet/habt gebrauchen können.
Eröffnet Euer Lerntagebuch, in dem Ihr diese Erinnerung aufschreibt.