Verdrängung von Rassismus und der Machteffekte von weißsein lernen weiß positionierte Menschen seit der Kindheit. Diese Verdrängung bildet eine Basis westlich geprägter Gesellschaften. Ihre Institutionen, ihre Unternehmen, ihre Philosophien, ihre Therapien, ihre Bildungs- Subjekt– und Kunstverständnisse sind mehrheitlich weiß geprägt, ohne sich als solche zu benennen. Manche Teilnehmer_innen fangen in diskriminierungskritischen Bildungssituationen an zu weinen, wenn sie aufhören zu verleugnen, dass sie weiß positioniert sind. Weil die Verdrängung das weiße Selbst stabilisiert, ist es erschütternd, sich ihrer gewahr zu werden. Diese auch als »weiße Tränen« bezeichnete Reaktion kann ein wichtiger Moment im Bildungsprozess sein und ist gleichzeitig eine Re-Zentrierung, weg vom Sprechen über Rassismus, hin zur Tröstung weißer Lernender. Mitunter wird es notwendig, eine Lerngruppe so aufzuteilen, dass Lernenden mit Rassismuserfahrung der Umgang mit weißen Tränen und die damit verbundene Reproduktion von Rassismus möglichst erspart bleibt.

Seit den 1980er Jahren kursieren deutsche und deutsch übersetzte Texte über die Phasen, die von weiß positionierten Menschen in der Auseinandersetzung mit Rassismus durchlaufen werden – ein frühes Beispiel ist Am Ende der Weißheit der weißen Niederländerin Lida van den Broek, das 1993 übersetzt im Orlanda Frauenverlag erschien, bearbeitet von der Schwarzen deutschen Dichterin, Aktivistin und Pädagogin May Ayim. Schwarze Autor_innen, die gegenwärtig Beiträge zum Thema liefern sind z.B. Manuela Ritz oder Tupoka Ogette. Eine Checkliste, die weiße Privilegien veranschaulicht, hat Peggy McIntosh entwickelt, und auch sie ist ins Deutsche übersetzt. Solche Handreichungen unterstützen mich in meinem Reflexionsprozess. Ich komme auf sie zurück, befrage, erweitere und kommentiere sie in Abgleich mit meinen konkreten Erfahrungen, lerne mit und von ihnen. Aber wie gehe ich mit meinen ambivalenten Emotionen um, die entstehen, wenn meine rassismuskritische Linse langsam schärfer wird? Ich handele beispielsweise als Freund_in, Kolleg_in und Pädagog_in trotz aller diskriminierungskritischen Bildung zuweilen übergriffig und verletzend, weil ich weiß positioniert bin und daraus Leerstellen in meiner Wahrnehmung resultieren. Manchmal gerade dann, wenn ich solidarisch und unterstützend sein möchte. Wenn ich Glück habe, machen mich Student_innen, Kolleg_innen und Freund_innen darauf aufmerksam, oder ich merke es selbst. Je länger und systematischer ich mich mit kritischem weißsein befasse, desto mehr Selbstmerkmomente stellen sich ein. Jedes Mal muss ich mit meiner Scham und meinem Ärger über mich umgehen, mit der Sorge, Bindungen könnten Schaden nehmen und mit dem Verlust, wenn sie tatsächlich Schaden nehmen.

Ich habe das weiße Privileg, von der Wahrnehmung von Rassismus pausieren, mich aus Situationen herausziehen zu können – etwas, das rassifizierten Menschen nicht möglich ist. Mein Wille zur Veränderung, das Bewusstsein, in Rassismus als Struktur eingeschlossen zu sein, bewirken demgegenüber, dass ich mich der für mich anstehenden emotionalen Arbeit stellen möchte. Dabei hilft mir, mich mit unterschiedlich, darunter auch weiß positionierten Mitstreiter_innen auszutauschen und weiterzubilden. Ich versuche, Fehlerfreundlichkeit zu pflegen, denn insbesondere pädagogisches Handeln ist von Kontrollverlust und Kontingenz geprägt. Ich versuche also, was ich in einem bestimmten Moment kann und weiß, es ist unmöglich, jeden Moment gelingen zu lassen. Es kann nicht darum gehen, immer alles richtig machen zu wollen, denn in diesem Anspruch steckt wiederum eine Überwindungsphantasie, die eine Leugnung von Rassismus als Struktur beinhaltet. Die Auseinandersetzung damit versuche ich stattdessen als kontinuierliche Übungspraxis zu begreifen. Dazu gehört das Üben dessen, was ich als »Peinlichkeitsfähigkeit« bezeichne: Die Fähigkeit, in der Verstörung zu bleiben, die sich beim diskriminierungskritischen Lernen einstellt – sie auszuhalten und als Wissensquelle zu erfahren. Eine hier wärmstens empfohlene Handreichung dazu haben 2021 Peggy Piesche und Katja Kinder unter dem Titel Wahrnehmung – Haltung – Handlung veröffentlicht. Sie betonen, dass das Ernstnehmen der Verstörung, die sich bei der Wahrnehmung von Rassismus als Struktur einstellt, zu einer Verlangsamung im Handeln führen muss – denn sie weist darauf hin, dass etwas nicht stimmt und daher der eingehenderen Beschäftigung bedarf.

Ein ähnliches Fazit zieht auch Martina Tißberger in ihrer rassismuskritischen Revision der Psychoanalyse. Paul Gilroy wiederum schreibt in seinem Buch Postcolonial Melancholia davon, es wäre notwendig »unproduktive Schuld in produktive Scham« umzuwandeln: Schamgefühle nicht als Lernhindernis zu fürchten, sondern als Impuls zur Veränderungsarbeit willkommen zu heißen. Nicht die gewaltsame Beschämung von Lehrenden und Lernenden im pädagogischen Verhältnis ist damit gemeint. Sondern die Scham als inneres Ereignis, wenn das verdrängte Dominanzverhältnis des Rassismus, welches das weiße Ich stabilisiert, ins Bewusstsein einbricht.

Hier findet Ihr weitere Querkarten aus der Kategorie »Innehalten«:
Laden...
Merkliste PDF