In einem meiner diskriminierungskritischen Workshops mit Kunstvermittler_innen bearbeiteten die Teilnehmer_innen die Power Flower bezogen auf ihr Berufsfeld. Bei der Besprechung der Ergebnisse äußerte eine Kollegin, es würde sie beschämen, dass sie beruflich und privat in einer schwierigen Lage sei, obwohl sie abgesehen von Alter und Geschlecht bei allen Kategorien der Power Flower auf der Sonnenseite stünde. Auch als vermeintlich privilegierte Person würde sie schließlich viele Verletzungen erfahren und hätte keine Erfolgsgarantie im Leben!

Ich finde es verständlich, dass – um bei diesem Beispiel zu bleiben – eine prekär beschäftigte Kunstvermittler_in, deren Arbeit innerhalb der Kunstinstitutionen, für die sie arbeitet, abgewertet wird und die mit wenig institutioneller Handlungsmacht ausgestattet ist, Schwierigkeiten hat, sich selbst als privilegiert zu verorten. Es ist mir ein Anliegen, dass wir in diskriminierungskritischen Bildungssituationen nicht in einen Konkurrenzkampf um unsere intersektionalen Verletzungen treten. Mit »intersektionalen Verletzungen« meine ich solche, die aus strukturellen Ungleichheitsverhältnissen resultieren, die in unsere Körper und unsere Psychen eingeschrieben sind und daher über ein persönliches punktuelles Gekränktsein hinausgehen. Es hilft der Sache nicht, wenn wir uns gegenseitig aufgrund unserer unterschiedlichen Subjektposition die Berechtigung absprechen, darüber traurig zu sein, wenn sich Lebenspläne nicht erfüllen oder es schmerzlich zu finden, wenn Anerkennung versagt wird. Wenn zum Beispiel für eine Kunstvermittler_in im Laufe ihres Berufslebens am eigenen Leib erfahrbar wird, dass eine kapitalistisch und patriarchal verfasste Gesellschaft darauf basiert, Verlierer_innen hervorzubringen und dass die Gefahr besteht, dass sie eine_r davon werden könnte, verursacht das Existenzangst, Abstiegsangst und Frustration. Jede Person hat unterschiedliche Umgangs- und Wahrnehmungsweisen in Bezug auf Scheitern, Verletzungen und Bedrohungen, die sie nicht vollumfänglich kontrollieren und beeinflussen kann. Manche Privilegien sind unsicher und fragil, Identitätskonstruktionen können widersprüchlich konstruiert sein und die Bedeutung von Ungleichheitskategorien kann sich im Laufe eines Lebens und mit wechselnden Kontexten verändern. In diskriminierungskritischer Perspektive sollten wir uns jedoch daran erinnern, dass es sich bei den intersektionalen Ungleichheitsachsen dennoch um strukturell wirkmächtige, historisch gewachsene soziale Konstruktionen handelt. Sie müssen von unseren individuellen Schicksalen insofern losgelöst betrachtet werden, als dass sie letztere nicht determinieren – und gleichzeitig sollte jeweils genau überlegt werden, auf welche Weise sie mit diesen Schicksalen jeweils spezifisch verwoben sind. Um dies konkreter fassen zu können, hilft mir Sara Ahmed weiter: Sie beschreibt Privilegien als Puffer, der dafür sorgt, dass eine_r beim Fallen mehr oder weniger weich aufkommt. Bezogen auf die Kollegin aus meinem Beispiel ließe sich formulieren: Es stimmt, dass sie in einer schwierigen Situation ist. Aber sie befindet sich in einer diskriminierungskritischen Weiterbildung, und in dieser geht es darum, etwas über Intersektionalität und Ungleichheit zu lernen. Der Bildungsprozess verlangt ihr die Einsicht ab, dass das intersektionale Zusammenwirken von Ungleichheitskategorien komplex ist: dass sie von Altersdiskriminierung, Sexismus und – das hatte die Frau aus dem Beispiel nicht erwähnt – von Klassismus betroffen ist, aber sich als weiße, den Körpernormen entsprechende, akademisch gebildete, heterosexuelle Cis-Frau gleichzeitig auch in einer machtvollen Position befindet. Die diskriminierungskritische Perspektive fordert sie zum einen dazu auf, historische Kontinuitäten und hegemoniale Anrufungen, die aus diesen machtvollen Aspekten resultieren, zu erkennen und ihre professionellen Handlungs- und Bewertungsmuster dahingehend zu befragen. Zum anderen legt sie nahe, sich mit anderen Frauen und Menschen, die gegen kapitalistische und patriarchale Strukturen kämpfen, zu solidarisieren und sich zu politisieren, statt in einen Konkurrenzkampf zu treten. Konkret: Es ist ihr gelungen, Kunstvermittlerin zu werden und diesen Beruf bis heute auszuüben. Was hat das möglicherweise mit Ressourcen zu tun, die ihre intersektionale Positionierung mit sich bringt? Wer und was unterstützt sie beim Aufstehen und Weitergehen, wenn sie fällt? Und wie wirken diese Ressourcen auf ihr professionelles Selbstverständnis und ihre Praxis? Welche Leerstellen in der Wahrnehmung und im Handeln entstehen daraus? Welche Fähigkeiten und Möglichkeiten? Was bedeutet es in ihrer spezifischen Position und Lage, sich solidarisch zu verbinden, diskriminierungskritisch wahrzunehmen und zu handeln, einzeln und kollektiv? Solche Fragen können an eine Person gestellt werden, dezidiert ohne diese zu beschämen, ohne ihren Erfahrungen und den damit verbundenen Gefühlen die Legitimität oder Wirkmächtigkeit abzusprechen. Eine diskriminierungskritische Bildungsarbeit wird nur möglich, wenn bei den Beteiligten die Bereitschaft ent/besteht, sich mit diesen Fragen jeweils intensiv auseinanderzusetzen – von jeder intersektionalen Positionierung aus – und auf dieser Basis Ansätze für eine verändernde Arbeit zu entwickeln.

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