Üben
Strukturen
Intersektionalität rekonstruieren
Aus einer diskriminierungskritischen Perspektive wäre eine Plakette mit den Worten »Schule mit Rassismus« angemessener als »Schule ohne Rassismus«, die in Deutschland auf vielen Schultoren und Websites prangt. Erstere würde auf ein Wissen darüber verweisen, dass Diskriminierung strukturell verankert ist und sich nicht »wegverlautbaren« lässt. Bei institutionellen Bekenntnissen zu Diversität stellt sich die Frage, auf welche Weise sie sich in den Strukturen materialisieren: Wie intersektional sind die Kollegien zusammengesetzt? (Wie) zeigt sich das in den Angeboten, z.B. im Bildungs- oder Veranstaltungsprogramm oder im Curriculum? Welche Foren gibt es, um als institutionelles Kollektiv insgesamt (und nicht allein die »Beauftragte«) gegen strukturelle Gewalt zu arbeiten; welche Anlaufstellen, um Diskriminierung zur Sprache zu bringen und Maßnahmen zu ergreifen? Die britisch-pakistanische Kulturwissenschaftlerin Sarah Ahmed hat 2012 mit On Being Included eine Studie veröffentlicht, in der sie untersucht, was passiert, wenn Diversität auf Institutionen draufsteht, aber nicht drin ist. Für diejenigen Institutionsangehörigen, die Diversität verkörpern (Ahmed nennt sie »Diversitätsarbeiter_innen«), verschlechtert sich durch die Verlautbarung ihre Arbeitssituation, weil sie dadurch stärker exponiert und mehr das Ziel von Projektionen und Aggressionen werden. Letztere resultieren aus der Verweigerung der Mehrheitsangehörigen, angestammte Privilegien anzuerkennen und aktiv auf sie zu verzichten. Diversitätsarbeit wird als »mit dem Kopf gegen eine Mauer rennen« erlebt. Je mehr sich eine_r einsetzt, um aktiv an Veränderung – wohlgemerkt, im Sinne der offiziellen Verlautbarung der Institution – mitzuarbeiten, desto toxischer wird das Klima für sie_ihn. Die, für die diese zutiefst paradoxen Verhältnisse am wenigsten schädlich sind, sind diejenigen, welche der somatischen Norm entsprechen: Sie bekommen die Paradoxie, die aus strukturelle Gewalt entsteht und diese reproduziert, gar nicht mit. Sie erleben die Situation als »im Fluss« und die Ge-anderten als das Problem: als diejenigen, die mit ihrer Präsenz und ihren Perspektiven das Fließen ins Stocken bringen. Ahmed sieht eine letztendliche Funktion von diversitätsorientierten Verlautbarungen darin, strukturelle Veränderung in den Institutionen zu verhindern. Die Schwarze deutsche Kunstwissenschaftlerin Nana Adusei-Poku schildert ähnliches aus ihrer Zeit als »Professorin für Diversität« an einer Kunsthochschule. Beide Autor_innen beschreiben die emotionale Arbeit, die es bedeutet, eine der ganz wenigen oder die einzige Diversitätsarbeiter_innen zu sein. Sie beziehen ihre Analysen auf die Hochschule, doch diese lassen sich für andere Institutionen genauso feststellen, wie z.B. Studien zur Regelschule zeigen. Intersektionalität in Strukturen anzuerkennen bedeutet, auf die oben gestellten Fragen diskriminierungskritisch informierte Antworten zu haben, die sich in der institutionellen Realität wiederfinden. Jüngste Besetzungen von Leitungspositionen wie die Intendanz von Julia Wissert am Theater Dortmund oder auch Preisverleihungen wie des Europäischen Kulturmanager*in Award 2020 an Julia Grosse und Yvette Mutumba, die Gründerinnen der Plattform Contemporary And sind sehr erfreulich. Aber sie zeigen auch, dass ein struktureller Wandel erst beginnt. Ein großer Dank geht an dieser Stelle an die institutionellen Diversitätsarbeiter_innen!
Ich verbinde mich an dieser Stelle schreibend mit den Selbstorganisationen, die durch von Diskriminierung Betroffene als kollektive Orte der Bildung, der Kulturproduktion und des Aktivismus gegründet wurden und werden. Von den Emanzipationsbewegungen für die Rechte von Schwarzen, Arbeiter_innen und (weißen, bürgerlichen) Frauen im 19., über die Bürger_innenrechtsbewegungen im 20. Jahrhundert bis zu heutigen queer–feministischen Buchläden (z.B. Queer Books in Bern), dekolonialen Kunstkollektiven (z.B. We Dey X Space, Wien) oder Jugendtheatern (wie das TheaterX, Berlin) bringen diese Orte überall unter prekärsten Bedingungen neues Wissen hervor, schaffen Artikulationsräume und unternehmen politische Einsprachen. Danke, dass es Euch gibt!
- Kennt Ihr – anders als ich – Kultur- und Bildungsinstitutionen, die auf die oben genannten Fragen im diskriminierungskritischen Sinne überzeugend antworten können? Macht eine Sammlung (und bitte, schickt sie mir…).
- Sucht in Eurem eigenen lokalen Umfeld eine oder mehrere diskriminierungskritisch informierte Selbstorganisationen an der Schnittstelle Kunst/Bildung. Wie weit weg sind sie von Euch in Metern? Wie weit weg sind sie von Eurem Alltag? Wie weit weg von Eurer eigenen intersektionalen Position im sozialen Raum? (Wie) Könntet Ihr diesen Organisationen zeigen, dass Ihr es wichtig findet, dass es sie gibt?