Die Entwicklung eines diskriminierungskritischen Vokabulars an der Schnittstelle von Kunst und Bildung besteht aus einem Wechselspiel von Verlernen und Lernen. »Verlernen« wird hier als Bewusstwerdung über die eigenen Leerstellen in der Wahrnehmung, Deutung und Benennung der Welt verstanden. Diese Leerstellen sind kein Resultat sozialer Benachteiligung, sondern im Gegenteil, ein Ergebnis der eigenen sozialen Position. Verlernen ist mit der Erfahrung dieser Leerstellen als Verlust verbunden. Daraus entsteht der Wille zur Veränderung, der wiederum Impulse zum neuen Lernen gibt. Was das konkret heißen kann, werde ich auf dieser Karte mit einigen Beispielen veranschaulichen.

Verlernen und Lernen sind unabschließbare Prozesse; sie sind Bestandteile einer diskriminierungskritischen Haltung. Eine solche Haltung kann sich an der Schnittstelle von Kunst und Bildung in kleinen Veränderungen der Sprachpraxis zeigen. Zum Beispiel zu verlernen, in einer Vermittlungssituation einen Satz mit »Sie kennen/Ihr kennt ja bestimmt…« zu beginnen. Dieser Satzanfang sagt etwas über die Leerstellen aus, welche die Lehrenden hindern, die Existenz unterschiedlicher Lebensrealitäten und Wissensbestände wahrzunehmen. Es ist ein Satz, der einen Teil der Lernenden beschämt, einen zweiten Teil zum Wettbewerb animiert und einen dritten Teil als wissende »In-Gruppe« absondert. Es wäre eine kleine, aber bedeutsame Veränderung, stattdessen z.B. mit »Ich kenne etwas, das ich Ihnen/Euch gerne näher bringen möchte, weil…« zu beginnen; oder »In meinem Arbeitsbereich wird X oft als Beispiel verwendet, weil…«. Dies sind Sätze, welche das eigene Wissen in ein Verhältnis zum Rest der Welt setzen, anstatt Allgemeingültigkeit zu behaupten.

Diskriminierungskritisch sich bildende Lehrende könnten lernen, Momente, in denen sie mit den für sie gewohnten Registern der Bildungs- und Fachsprache an Lernenden vorbeireden, als Klassismus wahrzunehmen. Das erlebe ich auch in meiner eigenen kunstpädagogischen Lehre. Obwohl ich selbst nicht aus einer Familie mit akademischer Bildung komme, habe ich mir mit den Jahren ein akademisches Sprachregister erarbeitet. Das schüchtert manche der Student_innen ein, vor allem zu Anfang, oder wenn es um kontroverse Themen geht. Sie erzählen mir, dass sie sich manchmal nicht trauen, etwas zu sagen. Es herrscht dann Schweigen in einer Situation, deren Gelingen davon abhängt, dass die Teilnehmenden diskutieren und beitragen. Aus der Erfahrung, die Lernenden mit dem eigenen Sprechen zum Verstummen zu bringen, entsteht ein schmerzliches Begreifen meines Privilegs als Verlust. Daraus resultiert mein Wunsch, diskriminierungskritische Sprachbildung zu erlangen. Zu dieser Sprachbildung gehört, dass ich übe, Sprachregister wechseln zu können und mein fachliches Sprechen nicht als naturgegeben oder wünschenswert vorauszusetzen. Dazu gehört zu üben, in das Sprechen immer wieder Reflexionen über meine eigene soziale Position und die Machteffekte, die damit verbunden sind, einzuweben. Dazu gehört auch, dass ich mit Methoden arbeite, die andere Äußerungen als Sprechen ermöglichen – zum Beispiel das Verfahren der Strukturlegung, bei dem mit geschriebenen Notizen an der Wand gearbeitet wird. Und dazu gehört, dass ich mich als Sprecherin zurücknehme – durch Gruppendiskussionen, durch den Einbezug von Körper und Raum (oder den Chat in der Onlinekommunikation) und durch spielerische Formen der Kommunikation. Die Kunstvermittlerin Sarah Hossein schreibt 2009 davon, wie sie ein Kartenspiel entwickelt hat, um in der Vermittlungsarbeit mit Schulklassen sich selbst zum Schweigen zu bringen und Platz für das Sprechen der Schüler_innen zu machen. Die Regisseure Wanja van Suntum und Adem Köstereli beschreiben anhand ihrer Regiearbeit, wie sie mit der Machtsituation in mehrsprachigen künstlerischen Beurteilungs- und Anleitungssituationen diskriminierungssensibel umgehen. Vorhandene Materialien zur diskriminierungssensiblen Sprachbildung können in solchen Bildungs- und Übungsprozessen genauso genutzt werden wie der Austausch mit den Lernenden und mit Kolleg_innen.

 

Anregungen für die Recherche

Auf der Website findet Ihr ein Glossar in dem viele Begriffe erklärt werden.

Suche die Begriffe heraus, die Dir für ein diskriminierungskritisches Nachdenken über Deine Methoden interessant erscheinen.

Versuche einmal, einen der Begriffe aus dem Glossar einer Person in Deinem Leben zu erklären, die etwas ganz anderes als Du arbeitet oder lernt. Notiere die Erfahrungen, welche Du dabei machst und reflektiere diese in einer diskriminierungskritischen Perspektive. Sieh Dir zur Anregung auch das Projekt »Glossar der Vielstimmigkeit« an.

Kennt Ihr Satzanfänge oder pädagogische Methoden, die dafür förderlich sind, dass alle an einer Lehr-Lernsituation beteiligten Personen sich einbringen und äußern können? Sammelt diese und ergänzt damit Euren Methodenpool.

In Lehr-Lernsituationen ist auch ein Vokabular des Schweigens am Werk: zum Beispiel nachdenkliches, abwesendes, wütendes, konzentriertes, gespanntes, ratloses, ängstliches, strafendes, zustimmendes – oder auch widerständiges Schweigen. Erinnert Euch an eine pädagogische Situation, in der Schweigen auftauchte. Wie könnte Schweigen diskriminierungskritisch Gehör finden?

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