Die diskriminierungskritische Veränderung des Kanons bedeutet Arbeit an und mit Archiven. »Archive« benutze ich hier als Sammelbegriff für große Wissensspeicher wie das kulturelle Gedächtnis eines Landes oder einer Region, für institutionelle Archive, wie die Sammlungsbestände von Museen oder die in Lehrplänen gelisteten Pflichtlektüren für z.B. den Deutschunterricht. Oder auch für persönliche Sammlungen wie z.B. von Kunstwerken und Methoden, die eine_r für die Arbeit und das Studium an der Schnittstelle von Kunst und Bildung benutzt. »Archiv« umfasst darüber hinaus die fehlenden Geschichten von Akteur_innen, Organisationen oder Bewegungen, deren Stimmen und Vermächtnisse kaum erhalten sind, weil Herrschaftsverhältnisse verhinderten, dass sie gehört und gespeichert wurden. So weit gefasst, kann die diskriminierungskritische Veränderungsarbeit an Archiven von jede_r, die es möchte, in Angriff genommen werden. Zur Veranschaulichung ein paar Beispiele.

Die Kuratorin Janice Mitchell war 2019/2020 als Stipendiatin am Museum Ludwig in Köln. Aus ihrer Forschung entstand die Ausstellung Mapping the Collection, welche US-amerikanische Kunstwerke bis 1980 aus der Sammlung zusammen mit Dokumenten der damaligen Bürger_innenrechtsbewegungen zeigte und durch feministische Kunst und Werke von Schwarzen Künstler_innen ergänzte. Dazu erschien ein Glossar, das Hintergrundinformationen zu den Widerstandsbewegungen gibt, die sich als Bezüge in den Werken finden lassen. Janice Mitchell veränderte das Archiv auf dreifache Weise: durch die Sichtbarmachung der sozialen Umwälzungen, in deren Kontext die Werke der Sammlung entstanden; durch eine neue Interpretation und durch die temporäre Erweiterung einer Sammlung, die vor allem aus weißen, männlichen Künstlern besteht. Als auf Zeit tätige und extern finanzierte Kuratorin bewirkte sie keine Veränderung der Strukturen des Museums. Aber ihre Arbeit stellt eine Erweiterung des Wissensarchivs über Ausstellungmachen in Deutschland dar.

Bestehende Archive zu ergänzen und zu konterkarieren, versucht auch der selbstorganisierte Berliner Projektraum Savvy Contemporary. Zum Beispiel lädt das partizipatorische Projekt Colonial Neighbours die Berliner Bevölkerung dazu ein, Spuren der deutschen Kolonialgeschichte wie Alltagsgegenstände, Waren, Lieder oder Geschichten in den Projektraum zu bringen. Dort arbeiten Künstler_innen mit dem wachsenden Archiv. Die Ausstellung The Faculty of Sensing wiederum beschäftigt sich mit dem Schwarzen Aufklärungsphilosophen und Juristen Anton Wilhelm Amo, der in den 1730er Jahren eine Doktorarbeit zur Gleichberechtigung Schwarzer Menschen verfasste und u.a. an der Universität Halle lehrte. Rassismus zwang ihn zur Auswanderung. Künstlerische Beiträge erweitern bei The Faculty of Sensing das Archiv seines lückenhaften Vermächtnisses im Sinne »Kritischen Fabulierens«. Als »Kritisches Fabulieren« bezeichnet die Schwarze US-amerikanische Professorin Saidiya Hartman die Methode, historische Recherche mit Fiktion zu kombinieren, um den Lücken und dem Schweigen der Archive, welche durch den Ausschluss von Stimmen entstehen, zu begegnen.

Bestehende Archive für die diskriminierungskritische pädagogische Arbeit zu aktivieren, versuchen demgegenüber die Vermittlungsprojekte, die im Rahmen des Forschungsprojekts TRACES (Transmitting Contentious Cultural Heritages with the Arts) in Museen initiiert worden sind. Ihnen geht es z.B. darum, im Kontext kolonialer Eroberung gewaltvoll entstandene Sammlungsbestände gemeinsam mit Schüler_innen zu sichten und die Debatte über die Rückgabe von Sammlungsbeständen zu reflektieren. So wird nicht zuletzt auch der etablierte Kanon von Methoden der Museumspädagogik kritisiert und erweitert. Dabei wird an einen historischen Wissensspeicher über Methoden kritischer Bildungsarbeit zu Kolonialismus angeknüpft, der existiert, aber im etablierten pädagogischen Kanon kaum auftaucht.

Anregungen für die Recherche

Beginnt mit der Veränderung Eurer eigenen Wissensarchive – den künstlerischen und den pädagogischen. An welchen Stellen ließen sie sich jeweils diskriminierungskritisch erweitern? Wo sind Eure Handlungsspielräume beim Ergänzen, anders Lesen, Kontextualisieren? Sammelt dokumentierte, historische und gegenwärtige Beispiele und Akteur_innen aus Eurem jeweiligen Arbeits- und Studienbereich, von denen Ihr den Eindruck habt, lernen zu können und/oder sie bei Eurer Arbeit verwenden zu können. Ergänzt damit Euren Pool.

Beobachtet: Was verändert sich im Rahmen dieser Recherche an Eurer gewohnten Recherchepraxis? Wo tauchen welche Begrenzungen auf? Worauf sind diese Begrenzungen, diskriminierungskritisch betrachtet, vielleicht zurückzuführen?

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