Vieles spricht dafür, im schulischen Kunstunterricht den Surrealismus zu behandeln: Die Bilderwelten des Surrealismus lassen alle Mal- und Zeichenstile zu, vom Fotorealismus bis zur Abstraktion, sowie interdisziplinäre Gestaltungstechniken, von der digitalen und analogen Collage und dem Film bis zu dreidimensionalen, raumbezogenen und performativen Zugängen, verbindbar mit Klang, Schrift und Sprache. Die Relativierung handwerklichen Könnens durch surrealistische Verfahren wie dem »automatischen Zeichnen« oder dem »Objet Trouvé«, kann Lernenden die Scheu nehmen, sich künstlerisch auszuprobieren. Ich war daher nicht überrascht, bei meiner Recherche Lehrmaterialien für die Klassenstufen 4 bis 13 zu finden. Deren Lektüre ließ mir die Wirksamkeit hegemonialer Subjektpositionen bei der Kanonbildung sehr anschaulich werden. Surrealismus wird offenbar fast durchgängig auf seine formalen Gestaltungselemente reduziert vermittelt. Dies geschieht anhand der immer gleichen europäischen, weißen, cis-männlichen Künstler: dem Deutschen Max Ernst, dem Belgier René Magritte, dem Katalanen Salvador Dalí und dem Franzosen Marcel Duchamps, falls Dadaismus und Konzeptkunst mitbehandelt werden. Manchmal wird noch Frida Kahlo aus Mexiko hinzugenommen, um nicht ganz ohne Frauen dazustehen und um über Europa hinauszugehen. Allerdings wird bei ihr, anders als bei den männlichen Kollegen, mindestens soviel über ihre Krankheiten und ihr tragisches Liebesleben wie über ihre Malerei vermittelt – anders als zum Beispiel bei Magritte, dessen Mutter Suizid beging als er 13 Jahre alt war, oder bei Dali, der den größten Teil seines Lebens in psychischer und zeitweise auch materieller Abhängigkeit von seiner Frau Gala verbrachte. Surrealismus erscheint im Kunstunterricht also vorwiegend als ein von wenigen Meistern, die geniale Werke produzieren, hervorgebrachter Stil. Stattdessen wurde der in Frankreich namentlich begründete Surrealismus aber eine Bewegung, in der sich weltweit Kulturschaffende vernetzten, welche emanzipatorische Ideen über Politik, Psychologie und Ästhetik teilten. So schrieb die martiniquische Schriftstellerin, Lehrerin, antikoloniale und feministische Aktivistin Suzanne Césaire 1943 in ihrem Essay Der Surrealismus und wir, der Surrealismus habe die Befreiung von Herrschaft und damit auch vom Kolonialismus zum Ziel. In vielen Ländern auf den afrikanischen und amerikanischen Kontinenten gab es eine surrealistische Bewegung als künstlerisch-intellektueller Teil der politischen Befreiungsbewegungen. Zudem waren am Surrealismus Frauen und queere Personen beteiligt, wie die ungarisch-US-amerikanische Kunsthistorikerin Susan Rubin Suleiman 1990 in ihrem Buch Subversive Intent: Gender, Politics and the Avant-Garde belegthat.

Die eurozentrische Erzählung über große Meister führt also zu einer historischen Verzerrung. Zudem werden Lernchancen verpasst. Denn der Surrealismus als intellektuelle-künstlerische-politische Bewegung böte genauso wie die für diese Bewegung typische Verknüpfung des psychischen Innenlebens mit gesellschaftlichen Fragen potentielle Anknüpfungspunkte für Jugendliche in der Pubertät: Bei der Suche nach politischen und künstlerisch-gestalterischen Handlungs- und Artikulationsmöglichkeiten, vor dem Hintergrund ihrer eigenen intersektionalen Verortung.

Anregungen für die Recherche

Findet ein weiteres Beispiel aus Eurem Tätigkeitsbereich, bei denen eine diskriminierungskritische Perspektive historische Gegenerzählungen und Erweiterungen von Wissen ermöglicht und durch diese neuen Aspekte auch neue Lehr- und Lernpotentiale bietet.

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