Üben
Strukturen
Privilegiertheit wahrnehmen
Welches Wissen zählt in einem künstlerischen Bereich? Wer kommt darin zu Wort und spricht? Wer wird als erfolgreich sichtbar? Was sind die Kriterien für Belohnung und Beförderung? 2016 veranstaltete Sarah Owens, Designprofessorin an der Zürcher Hochschule der Künste, einen Workshop mit dem Titel Sind Sie gut genug? Der Workshop war Teil des Abschlusssymposions des Forschungsprojektes Art School Differences, welches Ungleichheitsverhältnisse an Schweizer Kunsthochschulen untersuchte. Er stellte Sarah Owens Recherchen zur Figur des »idealen Designers«, die sich in den Curricula von Designstudiengängen versteckt, zur Diskussion. Den Ausgangspunkt bildete die Analyse von Publikationen, die Aussagen über gute Qualität und herausragende Persönlichkeiten aus diesem Bereich enthielten. Die Materialien wurden durch Zitate von Studierenden und Lehrenden und aus Lehrbüchern ergänzt. Der Workshop ließ einen versteckten Lehrplan aufscheinen, der einen »idealen Designer« vermittelt, der den Maßstab dafür setzt, wer in diesem Berufsfeld als qualifiziert oder mit Potential ausgestattet erscheint. Eine weitere Kollegin, die Textildesignerin, Lehrerin und Historikerin Paola de Martin, bot einen Workshop an, in dem sie Erkenntnisse aus ihrer Doktorarbeit zu Designer_innen aus ökonomisch benachteiligten Milieus präsentierte. Beide Workshops zeigten, dass »weißsein, Heterosexualität, Cis-Männlichkeit, mittelschichtskonforme Körpersprache, Verhalten und Geschmack (Habitus), mehrheitskonformes Erscheinungsbild, Gesundheit und Fitness« Eigenschaften sind, die in den Designberufen enorme strukturelle Vorteile bieten.
Sowohl Sarah Owens als Schwarze Frau als auch Paola de Martin, die Ende der 1960er Jahre als Tochter italienischer Saisonarbeiter_innen in die Schweiz kam, entsprechen in ihrer intersektionalen Verortung nicht den unausgesprochenen Idealen ihres Arbeitsfeldes. Sie sind vielmehr das, was die britische Soziologin und Filmemacherin Nirmal Puwar in ihrem gleichnamigen Buch 2004 als »Space Invaders«, als Eindringling_innen in einen Raum bezeichnet. Space Invaders bietet eine aufschlussreiche Analyse dessen, was es Menschen jenseits der privilegierten Subjektpositionen erschwert, im Westen in Bereichen wie Politik, Hochschulbildung oder den Künsten Erfolg zu haben. Ein für das Verständnis der Dynamiken, die dabei am Werk sind, hilfreiches Konzept, das Puwar vorschlägt, ist die »somatische Norm« dieser Räume. Somatisch kommt aus dem Griechischen und bezeichnet das, was sich auf den Körper bezieht; was körperlich ist. Die erwähnten professionellen Handlungsräume sind für vermeintlich »allgemeingültige« Körper gedacht, die entlang der oben genannten Eigenschaften privilegierte Körper sind. Puwar berichtet anhand von Beispielen darüber, was passiert, wenn die somatische Norm durch das Vorhandensein von »dissonanten Körpern« unterbrochen wird: von Körpern, die nicht dazu bestimmt sind, in Hauptrollen oder überhaupt aufzutauchen. Die häufige Reaktion auf diese Körper seitens derer, die die somatische Norm darstellen, bezeichnet Purwal als »ontologische Angst«: Sie empfinden die Anwesenheit der Space Invaders als grundlegend falsch und bedrohlich (»Ontologie« meint die Beschäftigung mit dem Grundlegenden, Wesentlichen), was sie aber nicht direkt benennen können. Stattdessen artikulieren sie Aggression in verschiedenen subtilen Abwehr- und Abwertungsformen, die Puwar in ihrer Studie systematisch herausarbeitet. Umgekehrt zeigt sie auch die Taktiken, die Space Invaders entwickeln, um zu überleben und sich zu behaupten. In manchen Fällen bemühen sie sich darum, maximal der somatischen Norm zu entsprechen und werden dadurch laut Puwar Teil einer »ontologischen Kompliz_innenschaft«. Dies zeigt: Wenn es um den Kampf in und um Strukturen geht, sind Verhältnisse komplex, und Vorgehensweisen lassen sich nicht ohne Weiteres in »gut« und »schlecht« aufteilen.
Untersuchungen wie die von Sarah Owens und Paola de Martin geben Kunst- und Designpädagog_innen Hinweise für eine diskriminierungskritische Lehrpraxis. Sie zeigen auch die Dringlichkeit auf, minorisiertes Wissen in die Fachentwicklung einzubeziehen. Kennt Ihr vergleichbare Beiträge von Space Invaders in Euren Bereichen an der Schnittstelle von Kunst und Bildung? Macht eine Liste.
Wie könntet Ihr konkret auf die Strukturen in Euren Bereichen wirken, damit mehr Space Invaders darin auftauchen?