Künstlerische Kanons spiegeln die historischen Kontinuitäten von Unterdrückungssystemen. Die weiße US-amerikanische Kunsthistorikerin Linda Nochlin hat das 1971 in ihrem Text »Warum hat es keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben?« anschaulich gemacht. Sie zeigte darin auf, wie Sexismus und Klassismus dazu geführt haben, dass es Künstlerinnen fast unmöglich war, als Meisterinnen in den Kanon einzugehen. Über die Jahrhunderte hinweg hat die Kunstgeschichte den weißen männlichen Blick auf Kunst und Künstler_innen normalisiert. Nochlin erhebt Einwände gegen Versuche, Künstlerinnen »wieder zu entdecken«: Solche Erweiterungen des Kanons änderten nichts an der dominanten Logik der Beurteilung und Kategorisierung von Kunst; die hinzugefügten Künstlerinnen verblieben die Ausnahme von der Regel. Gleichzeitig hat sie zu ihren Lebzeiten selbst aber auch mehrere Ausstellungen zur Kunst von Frauen organisiert – woran deutlich wird, dass aus Kanonkritik selten einfache und gradlinige Lösungen erwachsen. Nochlins Ausstellungen und insbesondere der hier erwähnte Text gehören zu den meistzitierten im Kanon feministischer Kunstgeschichte. Sie erwähnt darin auch Ausschlüsse aufgrund von Rassifizierung – und bleibt damit eine Ausnahme. Das fast vollständige Fehlen dieser Analysekategorie im Kanon des weißen Feminismus ist seinerseits eine durch historische Kontinuitäten der Unterdrückung bedingte Leerstelle. Diese wird allerdings von Schwarzen Feminist_innen wie Patricia Hill Collins, dem Combahee River Collective oder bell hooks seit Jahrzehnten sichtbar gemacht und kritisiert. Erst ganz langsam werden diese Stimmen auf einer etwas breiteren Basis gehört, immer noch unter großen Widerständen. Es ist eine kontinuierliche Arbeit, den historischen Kontinuitäten von Herrschaftsverhältnissen entgegenzuwirken.

Dies verdeutlicht auch ein Blick in aktuelle kunstpädagogische Schulbücher, zum Beispiel wenn es um Architektur geht. Hier lassen sich entlang sämtlicher Achsen sozialer Ungleichheit Ausschlüsse im kunstpädagogischen Kanon feststellen. Während es diesen Lehrwerken zufolge unverzichtbar erscheint, dass Schüler_innen in der Regelschule die architektonischen Fachbegriffe für Einzelelemente von gotischen Kirchen auswendig lernen, bleiben Bereiche der Architektur, die nicht dem Kanon der europäischen Repräsentativ- und Sakralbauten angehören, unterbelichtet. Klassenbewusste Zugänge zu Architektur, wie zum Beispiel partizipatorische Planungen von Häusern und Siedlungen, in denen Architekt_innenkollektive seit den 1960er und 1970er Jahren mit der Bevölkerung zusammenarbeiteten, tauchen in keinem einzigen mir bekannten aktuellen Schulbuch auf. Genauso wird kaum ein Wort über Architektur und Stadtplanung als politisch umkämpfte gesellschaftliche Bereiche, die jeden einzelnen Menschen betreffen, verloren: kein Wort zu Be_Hinderung durch Architektur und Stadtplanung; kein Wort zu Gentrifizierung und zu den Bewegungen dagegen. Architekturen vom afrikanischen Kontinent und insgesamt aus dem globalen Süden wiederum werden in den Schulbuchdarstellungen vorwiegend exotisiert und dadurch gegenüber der europäischen Baukunst abgewertet, ge-andert. Eine kritische Geschichtsschreibung über die Rolle von Architektur im Kolonialismus taucht genauso wenig auf wie die Tatsache, dass Bautechniken und Stile aus allen Regionen der Welt in der europäischen Architektur angeeignet wurden. Ein vergleichsweise kleiner Ausschnitt des Gesamtgeschehens erscheint als Gesamtheit der Architektur.

Zur Zeit entstehen Versuche von diskriminierungskritischen Analysen aktueller Schulbuchliteratur, der Herausarbeitung von deren Leerstellen und Ver-Anderungsprozessen. Das ist ein wichtiger Akt der Unterbrechung. Angesichts des Umfangs, in dem Schulbücher und auch andere Lehrmaterialien gegenüber aktuellen Diskussionen in den verschiedenen künstlerischen Bereichen zurückbleiben, müssten darüber hinaus diskriminierungskritisch informierte Lehrmaterialien entwickelt werden. Ein Blick in die Lehrpläne zeigt, dass es dafür unerwartet viel Spielraum gibt. Also…fangt am besten gleich damit an.

Anregungen für die Recherche

Wie ist der Kanon in Eurem Arbeits- oder Studienbereich entstanden? Welche kritische Geschichtsschreibung gibt es dazu? Seit wann gibt es in Eurem Bereich Versuche, Kanon zu erweitern, anzueignen, zu unterbrechen? An welche historischen Beispiele von Widerständigkeit könntet Ihr anknüpfen? Informiert Euch und sammelt historische und gegenwärtige Protagonist_innen und Herangehensweisen.

Versucht auf dieser Basis, ein Lehrmaterial zu entwerfen, das sowohl die Kritik am Kanon vermittelt als auch die Alternativen aufzeigt.

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