Übung

Zur Veranschaulichung für die historischen Kontinuitäten von Unterdrückungssystemen ein Beispiel aus der Arbeit an der Schnittstelle Kunst/Bildung: Wenn ich Unterrichtsmaterial zu Paul Gaugin suche, finde ich eine große Menge von Angeboten. Wenn ich Unterrichtsmaterial zu Amrita Sher-Gil suche, finde ich – nichts. Amrita Sher-Gil kann jedoch mindestens als eine genauso bedeutende Künstlerin ihrer Zeit gelten wie Paul Gaugin. Die Tatsache, dass Sher-Gil kaum bekannt ist, aber Gaugin in den allgemeinbildenden Schulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz als wichtiger Teil des europäischen kunstgeschichtlichen Kanons behandelt wird, verweist auf die historischen Kontinuitäten von Sexismus und Rassismus. Ein weiterer Verweis auf diese historischen Kontinuitäten ist die Art und Weise, wie Paul Gaugins Werk in den Unterrichtsmaterialien behandelt wird: zumeist ohne den Exotismus und Sexismus seines künstlerischen Blicks und die Kolonialität seines Lebens als Künstler als Kontextualisierung und kritische Hinterfragung anzubieten.

Übung

Übung Veranschaulichungen finden

Minimaler Zeitbedarf: 60 Minuten

Sammelt in Eurem Lerntagebuch Beispiele für historische Kontinuitäten von Unterdrückungssystemen aus Euren eigenen Tätigkeitsbereichen an der Schnittstelle Kunst/Bildung. Die Beispiele können sich sowohl auf den Kanon (Welche Inhalte tauchen in der Arbeit auf?), auf die Methoden (Wie wird die Arbeit gemacht?) als auch auf die Strukturen (Was sind die Bedingungen, unter denen die Arbeit geschieht?) beziehen.

Findet mindestens drei Beispiele und überprüft/diskutiert an ihnen jeweils die historisch gewachsene Wirksamkeit von KlassismusRassismus, Ableismus, Sexismus oder weiterer Unterdrückungssysteme.

Übung

Übung Kontinuitäten unterbrechen

Minimaler Zeitbedarf: 60 Minuten

Wählt eines Eurer Beispiele aus, um daran die Unterbrechung der historischen Kontinuitäten zu versuchen. Skizziert zum Beispiel eine Unterrichtseinheit, die den Kontinuitäten im Kanon etwas entgegensetzt; oder Handlungsmöglichkeiten in einer pädagogischen Situation; oder Ideen für einen künstlerischen Eingriff; oder strukturelle Veränderungen in einer Institution; oder … – je nachdem, worum es in Eurem Beispiel geht.

Ein Beispiel für die Unterbrechung historischer Kontinuitäten des Herrschaftssystems Rassismus findet Ihr auf der Karte mit der Abbildung von #Getinthewayofart des Künstlers* Evan Ifekoya.

Lade die Karte mit der Abbildung von #Getinthewayofart von Evan Ifekoya hier als PDF herunter.

Wie Bildung und Kunst mit der historischen Kontinuität von institutionalisierten Unterdrückungssystemen verknüpft ist, verdeutlicht Carmen Mörsch im Buch Die Bildung der A_n_d_e_r_e_n durch Kunst. Ausgehend vom geografischen Fokus England macht sie u.a. am Beispiel des Foundling Hospitals for the education and maintenance of exposed and deserted young children die »Verschränkung einer sozialreformatorisch motivierten Verbesserung von Lebensbedingungen, philantropy und dem Bedürfnis, soziale Kontrollen zu implementieren« (Mörsch, 2019:65) nachvollziehbar. Dabei zieht sie das Foundling Hospital »als Beispiel für die Produktion von und den Umgang mit inferiorer Alterität [heran], wie sie für die bürgerliche und die nationale Identitätskonstruktion konstitutiv war.« (ebenda:125) Ziel des Gründers Captain Thomas Coram war es, »eine Institution mit der Aufgabe [zu gründen], den aus […] Ausbeutungsverhältnissen hervorgegangenen Kindern Unterkunft, Unterhalt und Erziehung zu gewährleisten, um sie dann wieder als Hausangestellte, Soldaten oder Lehrlinge zu vermitteln, sie also für die Gesellschaft ökonomisch nutzbar zu machen.« (ebenda:65) Denn »von diesen Menschen ging aus bürgerlicher Perspektive prinzipiell eine Gefahr aus: Wären sie sich selbst überlassen worden und gestorben, hätte dies einen nicht vertretbaren Verlust für die nationale Ökonomie bedeutet. Hätten sie überlebt und wären auf der Straße aufgewachsen, so hätten sie – das lehrte die Erfahrung, die bereits aus dem antikolonialen Widerstand bekannt und auf mögliche Aufstände im ›Mutterland‹ übertragbar war – eine Gefahr für die Besitzenden dargestellt. Das Foundling Hospital lieferte den Beweis, dass es möglich war, diese Gefahr durch Bildungs- und Zivilisierungspraktiken nicht nur zu bannen, sondern ihre Energie dem nationalen und kolonialen Projekt als Ressource zuzuführen. Mehr noch: Unterbringung und Pflege der foundlings ermöglichten es, den Prozess dieser Rettung und Umerziehung in geordneter, gefahrloser Weise öffentlich zu besichtigen; und dies als Aufführung, die sich mit dem Besuch einer der ersten, öffentlich zugänglichen Kunstausstellungen in den Räumlichkeiten des Foundling Hospitals verband. Kunstvermittlung, in ihren Anfängen noch nicht als interpersonelle Praxis institutionalisiert, sondern beschränkt auf eine edukative Hängung von Kunstwerken, auf deren moralisch-bildenden Gehalt bei Bedarf Bezug genommen werden konnte, stellte eine von KünstlerInnen aktiv mitgestaltete Form des pädagogischen Handelns dar.« (ebenda:125f.).

Am Beispiel sogenannter »Integrationskurse« kritisiere ich aus gouvernementalitätskritischer Perspektive, dass Bildung bis heute als Instrument zur »sozialen Selektion« dient »indem sie die Teilnehmenden – weniger aufgrund ihres Sprachvermögens als aufgrund einer geleisteten oder verweigerten Einsicht in die Notwendigkeit einer Selbstaktivierung und Anpassung an eine unterstellte Norm – in mehr oder weniger ›wertvolle‹ Subjekte für die Aufnahmegesellschaft unterteilen.« (Erni, 2019:150) [Gouvernementalität ist ein Konzept des französischen Philosophen Michel Foucault, in dem dieser den Zusammenhang von Herrschaftstechniken und Selbsttechnologie untersucht. In dieser Wortschöpfung verbindet Foucault die beiden Begriffe Regieren (gouverner) und Denkweise (mentalité) semantisch miteinander. Er schafft damit ein Bild, bei dem das Regieren nicht mehr als von außen (Staat, Regierung, Lehrperson) an mich herangetragen wird, sondern wo das Regieren als »Mich-Selbst-Regieren« bereits Bestandteil meines Denkens (und meines Begehrens) geworden ist.]

Eine historische Kontinuität dieser beiden Beispiele ist die Rolle von Bildung bei der Frage, wie Menschen »für die Gesellschaft ökonomisch nutzbar« gemacht werden können. Dem Foundling House Gründer Coram ging es nicht darum »die hegemoniale Differenzierung in ›legitime‹ und ›illegitime‹ Kinder in Frage zu stellen oder gar sexuelle Ausbeutung direkt zu bekämpfen« (Mörsch, 2019:65), ebenso wenig wie es den staatlichen Einrichtungen, die heute die Ziele von »Integrationskursen« als »Förderung der Integration von Migrantinnen und Migranten im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe und Chancengleichheit« (Rahmencurriculum DaZ, S. 6) beschreiben und mit dem Ziel verbinden, »die Bedeutung der Grundrechte für ein selbstbestimmtes Leben und ein konstruktives Miteinander sichtbar und nachvollziehbar zu machen« (ebenda) anpreisen, um die Bekämpfung sozialer Ungleichheit geht. Die Bildungswissenschaftlerin Elisabeth Sattler hält Ungleichheit gleichermaßen für den Ausgangs- wie den Endpunkt von Chancengleichheit. »Sie versteht Ungleichheit als logische und empirische Voraussetzung für Chancengleichheit und die Forderung danach. Diese hätte ›Ungleichheit aber auch zum Zweck‹, und zwar insofern, als dass sie als Wettbewerbsformel der Leistungsgesellschaft eingeschrieben sei. Die Forderung nach Chancengleichheit appelliere damit fatalerweise ausschließlich an die Individuen, sie mögen ihre Chance nutzen, womit ›ein Problem als ein scheinbar individuell lösbares Problem formuliert [wird], das eigentlich ein strukturelles soziales Problem darstellt.‹« (Sattler, zit. in: Erni, 2019:150).

Damals wie heute dient Bildung – wenn sie nicht dezidiert herrschaftskritisch ist – der Stabilisierung dominanter Ordnungen. Bildung könnte mit Antonio Gramsci aber auch als Teil kollektiver Emanzipationsprozesse aufgefasst werden. »Gramcsi zeichnet dazu das Bild des ›Stellungskriegs‹, bei dem ›an unterschiedlichen Fronten, in zahlreichen kleinen Kämpfen eine Veränderung der sozialen Organisation und der kulturellen Deutungsmacht errungen werden.‹« (Sternfeld, zit. in: Erni, 2019:153). Bildung spiele dabei eine entscheidende Rolle. »Durch Wissensproduktion und Vermittlung, durch Debatte, durch die Arbeit an Verständnis und Einverständnis« solle die Eroberung der hegemonialen Macht erfolgen, welche eine Umgestaltung von Gesellschaft ermögliche.« (ebenda)

Dass Bildung bis heute eher herrschaftsstabilisierend als transformierend aufgefasst wird, verdeutlicht die von Aïcha Diallo, Annika Niemann und Miriam Shabafrouz im September 2021 herausgegebene Publikation Untie to Tie. Koloniale Fragmente im Kontext Schule. Diese umfasst verschiedene Beiträge, die koloniale Kontinuitäten im Kontext Schule auch im Jahr 2021 eher als Regel, denn als Ausnahme zeichnen. Das Forschungs- und Ausstellungsprogramm Untie to Tie eröffnete im März 2017 die Ausstellung Kolmanskop Dream von Pascale Martine Thayout. Als Ziel dieses langfristig angelegten Programms wird im Vorwort des Bandes »eine Betrachtung des kolonialen Vermächtnisses in der heutigen Gesellschaft aus unterschiedlichen Perspektiven« (Sebti, 2021:14) genannt. 2018/19 wurde in einer zweiten Phase untersucht, »wie diese kolonialen Strukturen mit Migration zusammenhängen.« (ebenda) Die dritte Phase, die ab 2019 bis heute, also Herbst 2021 andauert, untersucht den Zusammenhang dieser Strukturen mit aktuellen ökologischen Herausforderungen.

In der Publikation bilden Koloniale Fragmente im Kontext Schule den Untersuchungsschwerpunkt: »Als Brennglas gesellschaftlicher Prozesse zeugen Curricula und Schulbücher von kolonialen Kontinuitäten und sind ein Kondensat dessen, was als lern- und vermittlungswürdig betrachtet wird. Was im Schulbuch steht, wird als gesichertes Wissen wahrgenommen. […] Schule ist aber weit mehr als Lehrplan und Vermittlungsmaterial. Schule ist auch ein soziales Gefüge, ein Raum, der von Macht und Hierarchien durchzogen ist. […] Der Raum Schule kann […] Ein- und Ausschlussmechanismen beeinflussen. Koloniale Fragmente zeigen sich etwa als struktureller Rassismus im gelebten Alltag von Schüler*innen – auf dem Schulhof, in den zahlreichen Interaktionen während des Unterrichts – und auch in dem, was nicht gezeigt wird.« (Diallo et al. 2021:21)

Ein Beispiel hierfür ist der Beitrag Das un_mögliche Klassenzimmer – notes to ourselves von Josephine Apraku, Belinda Kazeem-Kamiński und Sunanda Mesquita.

»Josephine Apraku und Belinda Kazeem-Kamiński nähern sich in ihrer gemeinsamen Textcollage auf sehr persönliche Art und Weise dem Lernort Schule. Josephine Aprakus Text reflektiert den Klassenraum als einen von struktureller Gewalt geprägten Ort. Als eine Antwort auf das Fehlen Schwarzer Autor*innen, Denker*innen, Aktivist*innen und Künstler*innen in Schulbüchern wie Lehrinhalten hat Belinda Kazeem-Kamiński einen fiktionalen Klassenraum für ihr jüngeres Ich entworfen und collagiert, als einen Ort, an dem Empowerment und Selbstliebe entwickelt und bestärkt werden können. Das Klassenzimmer wurde anschließend von Sunanda Mesquita illustriert.«

Der Band enthält eine Vielzahl weiterer Beiträge, die beschreiben, wie historische Kontinuitäten in Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien veranschaulicht und unterbrochen werden können. So beschäftigt sich Saraya Gomis in ihrem Text Die Darstellung des Anderen – eine kurze Erzählung über eine Unterrichtsreihe »auf diskursive und bildpolitische Art und Weise mit dem kolonialrassistischen Blick auf Andere. Vor dem Hintergrund ihrer konkreten beruflichen Erfahrung als Lehrperson untersucht und dekonstruiert Saraya Gomis mittels eigener Lehrmaterialien die Darstellung der ›Zu-Anderen-Gemachten‹ in der europäischen Mehrheitsgesellschaft in Erzählungen über Minderheiten oder Menschen aus dem Globalen Süden.« (Gomis, 2021:269ff) Während die Künstlerin Moshtari Hilal sich »mittels Sprache und Zeichnung […] mit der bildpolitischen Konstruktion und Produktion von normativen Schönheitsidealen in der Geschichte, im Kapitalismus und in den aktuellen Medien auseinander [setzt].« (ebenda)

Ebenfalls in dieser Publikation findet sich ein Gespräch zwischen Claudia Hummel, Annette Krauss und Ferdiansyah Thajib aus dem Jahr 2019. Unter dem Titel Gefühlte Häufigkeiten: Koloniale Komplizenschaft in Deutschen Mathematikbüchern, nimmt das Tridem »Mathematikbücher der 1980er- bis 2010er Jahre in den Blick. In einer dekonstruktiven Lektüre untersuchen sie, wie Abbildungen, Zahlen und Textaufgaben koloniale Logiken fortschreiben. Die Disziplin Mathematik wird dabei häufig als ›neutral‹ und universell wahrgenommen. Wie kann dieser normalisierende Glauben durch situiertes Wissen und eine relationale Mathematik ›verlernt« werden?‹ (Hummel, Krauss, Thajib in: Diallo et al., 2021:253ff)

Eine Veranstaltungsreihe, die Beiträge zur Unterbrechung von historischen Kontinuitäten versammelt, ist das von Fatima El-Tayeb 2018 unter dem Titel Wissen Dekolonisieren kuratierte Begleitprogramm zur Ausstellung Rassismus. Die Erfindung von Menschenrassen im Deutschen Hygiene-Museum. In der Reihe unterhielt sich El-Tayeb u.a. mit Christian Kopp und Iris Rajanayagam über (Erinnerungs-)Diskurse dekolonisieren – Wer spricht, wer wird gehört? und mit Philipa Ebéné, Natasha A. Kelly und Nicola Lauré al-Samarai über Institutionen dekolonisieren | Wessen Geschichte(n) erinnern wir?.

Beispiel für eine Dekolonisierung von Kunst und Kultur ist die gleichnamige Veranstaltungsreihe, welche xart splitta e.V. 2016 unter Beteiligung von Rajkamal Kahlon, Sandrine Micossé-Aikins, Rena Onat und Serfiraz Vural, Nathalie Anguezomo Mba Bikoro und Raju Rage kuratiert hat. [Zur Problematik, den Begriff »Dekolonisierung« als weiß positionierte Person zu verwenden, sagt Carmen Mörsch in einem Interview, das Yasmina Bellounar anlässlich der Interventionen 2017 mit ihr geführt hat: »Ich arbeite selber nicht mit dem Begriff, ohne ihn gleichzeitig durchzustreichen, weil ich glaube, dass der im Moment inflationär verwendet wird. […] Er wird aus meiner Sicht häufig metaphorisch verwendet – und auch ungenau.« Der Begriff »Dekolonisierung« würde angeeignet und entleert und nicht selten mit »Internationalisierung« gleichgesetzt. »Ich versuche, ihn sehr streng zu verwenden. Für mich bedeutet er erstmal, dass er nicht mir gehört, als eine, die historisch gesehen auf der Kolonisten-Seite ist, sondern den Kolonisierten. Weil es dabei immer um einen Kampf geht, um Befreiung von Unterdrückungsverhältnissen, von kapitalistischen, neokolonialen Ausbeutungsverhältnissen. […] Deshalb benutze ich ihn, wenn überhaupt, dann eigentlich nur durchgestrichen, in dem Sinne, dass er präsent ist, dass er so etwas bildet wie einen Ausgangspunkt und eine Horizontlinie. Gleichzeitig aber auch durch den Durchstrich die Unmöglichkeit der Aufgabe deutlich zu machen. Gerade, wenn ich damit operiere, von einer Mehrheits-weißen Position aus.«]

Nebst Fragen danach, was Dekolonisierung in Kunst bedeuten und wie durch Kunst Dekolonisierungsprozesse initiiert werden könnten, ging es den Veranstalter_innen von xart splitta auch darum, »[w]elche Rolle […] eigene künstlerische und kulturelle Interventionen für Schwarze Kunstschaffende und Kunstschaffende of Colour in der Analyse von Erinnerungskulturen in Deutschland und Europa – vor allem in der Bewältigung und Überwindung der damit verbundenen Traumata [spielen].«

Zur Frage, wessen Geschichte(n) wir (nicht) erinnern, finden sich zahlreiche Beiträge aus migrantischer und jüdischer Perspektive zum Mauerfall in der 2020 von Lydia Lierke und Massimo Perinelli herausgegebene Publikation Erinnern stören: Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive. In ihrem Beitrag Erinnern heißt stören!, beschäftigen sich Jana König und Elisabeth Steffen u.a. mit den Dokumentarfilmen Duvarlar – Mauern – Walls von Can Candan. Darin unterhält sich der Filmemacher zwei Jahre nach dem Mauerfall mit »Einwander*innen der ersten und zweiten Generation und seine Aufnahmen zeichnen ein sozial und kulturell vielfältiges Bild der ›türkischen community‹ Berlins.« Im weiteren Verlauf macht der Film allerdings sehr deutlich, »dass die nationale Einheit nach dem Mauerfall diese größte Minderheit nicht miteinschloss. Vielmehr wurden Migrant*innen offensiv ausgegrenzt.«

Eine Arbeit, bei der es auch darum geht, (mehrheitsgesellschaftliches) Erinnern zu stören und historische Kontinuitäten zu unterbrechen, sind die vom Aktionsbündnis ›NSU-Komplex auflösen‹ ins Leben gerufenen Tribunale. Dabei wird »Der NSU-Komplex […] als ein Kristallisationspunkt strukturellen Rassismus [gedacht]. Das Tribunal ist damit ein Ort der gesellschaftlichen Anklage von Rassismus. Die Berichte der Betroffenen und Angehörigen stehen im Mittelpunkt. Ihre Geschichte gilt es zu hören und zu verstehen.« Eine von Ayşe Güleç und Fritz Laszlo kuratierte Ausstellung, die derzeit im Maxim Gorki Theater in Berlin zu sehen ist, versucht unter dem Titel Offener Prozess »die komplizierte Hintergrundsituation [zu entwirren], die den Serienmorden der rechtsextremen Terrorgruppe NSU zwischen 2000 und 2006 den Weg ebnete. Das Projekt hinterfragt das offizielle und gängige Narrativ, das die Gräueltaten weiterhin als Einzelfälle von ideologischem Fanatismus definiert, und zeigt verschiedene Ebenen des institutionellen Rassismus auf, der offen oder latent in die Arbeitsweise der Staatsapparate und das tägliche Leben eingeflossen ist. Im Gegensatz zur lähmenden Zuschreibung der Opferrolle an diejenigen, die ihr Leben verloren haben, geben mehrere Arbeiten in Offener Prozess deren Verwandten und Gemeinschaften eine Stimme, die sich dem ihnen auferlegten Schweigekonsens widersetzen.« Die Ausstellung enthält künstlerische Beiträge von Harun Farocki, Pınar Öğrenci, belit sağ, Želimir Žilnik, Ulf Aminde und Forensic Architecture u.a., die sich den Lebensrealitäten von Gastarbeiter_innen, Migrationsgeschichten, dem Alltag in Deutschland und der rechtsterroristischen Gewalt wie dem Alltagsrassismus widmen.

Um geteilte Erinnerungen ging es bei der Tagung Erinnerungsorte. Vergessene und Verwobene Geschichten, welche 2016 vom Jüdischen Museum in Kooperation mit der Alice Salomon Hochschule Berlin veranstaltet wurde. Das gleichnamige Praxisforschungsprojekt »wirft viele, manchmal neue Blicke auf Menschen, Orte und Touren in Berlin. Und thematisiert, wer und was bis dato nicht im Fokus stand, sichert Spuren, die versteckt oder vergessen wurden.« Diese finden sich auf der Website Verwobene Geschichte*n.

Ein Symposium, das sich »den Geschichten – im Plural – des Lernens mit Kunst« widmet, hat 2018 unter dem Titel intertwining hi/stories of arts education als Zusammenarbeit zwischen der ZHdK und der Shedhalle Zürich stattgefunden. »Mit Studierenden, Lehrpersonen, Kunstvermittler_innen, Forschenden und Kunstschaffenden mit Interesse an Fragen des Lehrens und Lernens [wurde] diskutiert, was aus historischen Beispielen und den globalen Zusammenhängen in der Geschichte der Bildung in/mit Kunst für die gegenwärtige Praxis zu lernen ist.« Ein wichtiges Ziel der Veranstalter_innen war es, Lehrmaterialen für die Aus- und Weiterbildung zu generieren. Zum Symposium gibt es auch eine Ausgabe vom Art Education Research e-journal.

Ein Material, das in diesem Zusammenhang erprobt wurde, ist die Learning Unit Un/chronological timeline of the arts, »an educational tool developed by intertwining hi/stories to engage with arts education histories and their global connections. The timeline includes a set of un-foldable cards and an instruction of use. When activated, it encourages participants to look for new ways of representing history of arts education taking into account a range of geopolitical viewpoints. Instead of organizing history in a customary chronological order, the timeline attempts to create connections between often seemingly remote (both in terms of time and geographical location) events, figures, publications, artefacts, etc. It invites to learn, construct, deconstruct, criticize and question history in a participatory way.« Nora Landkammer und Puleng Plessie haben dazu einen Workshop beim Festival »Platz für Diversität!? – Diskriminierungskritische Allianzen zwischen Kunst und Bildung« angeboten »We will start the online workshop with an introduction to the timeline game and invite participants to engage with a card which speaks to a particular geographical and chronological time. Participants will be encouraged to engage and reflect art education histories from a local perspective.«

Ein anderes Material, das sich mit historischen (Dis-)Kontinuitäten beschäftigt, ist die von glokal e.V. herausgegebene Broschüre connecting the dots – Geschichte(n) von Unterdrückung und Widerstand: »In der hegemonialen Geschichtsschreibung gibt es unzählige Leerstellen. Viele Geschichten, die wichtig für die Gestaltung unserer Gegenwart und die Vorstellung möglicher Zukunft sind, wurden noch gar nicht geschrieben«, schreibt der Verein glokal e.V. »Um diese Leerstellen ansatzweise zu füllen haben wir in dem eLearning Tool connecting the dots zahlreiche aufschlussreiche Zitate von Menschen aus vielen Epochen, Erdteilen und mit vielfältigen gesellschaftlichen Perspektiven (in Bezug auf Klasse, Geschlecht, Sexualität und Rassifizierung) gesammelt.«

Darin enthalten ist die Zeitstrahlmethode: Dazu wird in der Vermittlungssituation »eine grobe Zeitachse (je nach ausgewählten Zitaten z.B. 1500 – heute) auf dem Boden ausgelegt. Je nach thematischem Schwerpunkt und zur Verfügung stehender Zeit werden 6-12 Zitate ausgesucht und an die Gruppe verteilt. Bei den Zitaten fehlt die Autor*innenangabe sowie die Jahreszahl. Die Teilnehmer*innen wissen also nicht, von wem und von wann das Zitat stammt. Zu zweit oder dritt diskutieren sie die Zitate und schätzen ein, wann und aus welcher Perspektive die Aussagen entstanden sein könnten. In den Zitaten werden machtstrukturelle und/oder koloniale Kontinuitäten und Brüche in Bezug auf das behandelte Thema (z.B. Rassismus) deutlich. Es handelt sich sowohl um Aussagen, die hegemoniale, im ,Westen‘ vorherrschende, Sprechweisen über ›die Anderen‹ und ›das Eigene‹ repräsentieren, als auch um (rassismus-)kritische Zitate und solche aus dem (z.B. antikolonialen) Widerstand.«

Ein anderes Projekt, das ich als Praxis zur Unterbrechung historischer Kontinuitäten verstehe, ist das vom mitkollektiv initiierte reimagine jetzt! Gestalte Deine Geschichte selber. Dieses richtet sich mit der Fragen an Lehrkräfte, ob sie sich »alternative, künstlerische Ansätze zu gesellschaftlichen Themen im Lehrplan« wünschen und das Gefühl haben, »dass die Zeit fürs kritische Reflektieren im Unterricht zu knapp bleibt«, und ob Ihnen auffällt, dass »bestimmte Sichtweisen aus der Gesellschaft selten in Lehrmaterialien und Bildungsplänen vertreten sind« und bietet Workshops und AGs zu diesen Fragen an. Zwei dieser Workshops wurden im Rahmen des Festivals »Platz für Diversität!?« angeboten: Die Unterbrechungen besticken und Verkörperte Geschichten.

Claire Horst stellt im Buch Alle Geschichten (er)zählen – Aktivierendes kreatives Schreiben gegen Diskriminierung konkrete Übungen für die diskriminierungssensible Bildungsarbeit vor, »mit denen verschiedene Formen von Diskriminierung bearbeitet werden können, etwa Rassismus, Homophobie und Klassismus. Dabei werden mögliche Einsatzfelder diskriminierungssensiblen kreativen Schreibens für Trainer_innen und Dozent_innen aufgezeigt sowie die wissenschaftlichen Grundlagen dieses Ansatzes vorgestellt.«

Und schließlich möchte ich auch den Guerilla Girls an dieser Stelle nochmals Tribut zollen, weil »You can’t understand art history without the Guerrilla Girls« (Nell Irvin Painter, Autor von Old in Art School: A Memoir of Starting Over and The History of White People) und auf deren Bedside Companion to the History of Western Art, The Hysterical Herstory of Hysteria and How It Was Cured: From Ancient Times Until Now und The Art of Behaving Badly hinweisen.

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