Digitale Suchmaschinen werden oft zur Recherche über ein neues Thema genutzt. Sie mit einem Bewusstsein über Herrschaftsverhältnisse zu verwenden, ist ein Weg, das hegemoniale Vokabular der Kanonbildung kennenzulernen und zu unterbrechen. Ein paar Beispiele: Gebe ich »afrikanische Kunst« in eine Suchmaschine ein, liefert mir der Algorithmus vor allem Ergebnisse, die den europäischen, exotisierenden Blick auf den Kontinent Afrika wiedergeben. Dies ist auch der Fall, wenn ich »Kunst« und den Namen eines afrikanischen Staates eingebe. Gebe ich stattdessen den englischen Begriff »art« und den englischen Namen eines afrikanischen Staates ein, resultiert das in einem Mix aus den Ergebnissen mit deutschen Suchwörtern und international sichtbaren Künstler_innen des Landes. Der Grund ist, dass es zu Letzteren Einträge auf Englisch gibt, was auf die Kolonialgeschichte und die daraus resultierende Vorherrschaft der englischen Sprache, auf das Wirken von englischsprachigen Bürgerrechtsbewegungen und antikolonialen Bewegungen zurückzuführen ist. Bei den Suchbegriffen »decolonial art« und »dekoloniale Kunst« wiederum findet meine Suchmaschine Gegenwartskunst, vor allem aus dem globalen Süden, die sich kritisch mit den globalen Machtverhältnissen beschäftigt. Ein anderes Beispiel wäre der Versuch, die Recherche zu »Frauenliteratur« mit dem Suchbegriffen wie zum Beispiel »Queere Literatur«, »Literatur trans«, »Autorinnen mit Be_Hinderung«, »Frauenliteratur Migration«, »Autorinnen Rassismus«, »Literatur von Schwarzen Frauen in Deutschland« etc. zu ergänzen. Nicht, weil dies per se emanzipatorische Begriffe sind – sie haben das Problem, diese Literaturproduktion in Nischen abzusondern. Gleichzeitig zeugen sie als Suchbegriffe aber von dem diskriminierungskritischen Wissen, dass diese Literaturen unter der Überschrift »Frauenliteratur« weiterhin meistens nicht mitgemeint sind. In diesen Widersprüchen bewegt sich eine_r bei dem Versuch, das Kanon-Vokabular diskriminierungskritisch zu verändern. Sie werden bestehen bleiben, solange keine Gerechtigkeit herrscht: kognitive Gerechtigkeit (die gleichwertige Behandlung von verschiedenen Wissensformen und Weltverständnissen; auch als »Pluriversalität« bezeichnet) und historische Gerechtigkeit (das Schaffen von Ausgleich in Hinblick auf Diskriminierungen der Vergangenheit und ihre Kontinuitäten), wie es der portugiesische dekoloniale Rechtssoziologe Boaventura de Sousa Santos und der indische Wissensoziologe Shiv Visvanathan nennen.

Ein damit verbundener Aspekt der Arbeit am Kanon-Vokabular ist, das Sprechen über künstlerische Entwicklungen im Bewusstsein um Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu gestalten. Zum Beispiel zu entscheiden, das Stürzen von Denkmälern der Kolonialzeit nicht reflexartig als »Vandalismus« zu bezeichnen, sondern es auch als widerständige, ermächtigende Praxis zu benennen, auch wenn eine_r selbst vielleicht kein Denkmal verändern oder entfernen würde. Oder das Verändern oder kritische Kommentieren diskriminierender Werktitel, das temporäre Entfernen oder kritische Kommentieren diskriminierender Kunstwerke in Ausstellungen nicht reflexartig und ausschließlich als »Zensur« zu brandmarken, sondern solche Handlungen auch als Akte historischer Gerechtigkeit im oben genannten Sinn zu benennen.
Wie so oft in der diskriminierungskritischen Arbeit geht es auch hier darum, Komplexität und Widersprüchlichkeit anzuerkennen; in diesem Fall, ihnen sprachlich Ausdruck zu verleihen. Bei der Veränderung des Vokabulars des künstlerischen Kanons handelt es sich um ein beständiges Neu- und Weiterlernen, um ein Ausprobieren, mit welchen Begriffen welche künstlerischen Werke, Praktiken und Ästhetiken aufgerufen und welche Akteur_innen von ihnen angerufen werden.

Regelmäßige Besuche von Online-Plattformen wie Universes in Universe, Contemporary And (C&), Artasiapacific, die Informationsseiten von Initiativen unter dem Stichwort »postkolonial« und die Weiterverfolgung von Hinweisen, die sich bei diesen Besuchen ergeben, können dabei unterstützen, ein Vokabular an diskriminierungskritisch informierten Suchbegriffen zu entwickeln. Bei einer kritischen Erweiterung des kunstpädagogischen Vokabulars wiederum kann zum Beispiel ein Studium der Materialien helfen, die das Netzwerk Another Roadmap for Arts Education zur Verfügung stellt.

Anregungen für die Recherche

Welche Keywords sind für Eure diskriminierungskritischen Recherchen an der Schnittstelle von Bildung und Kunst förderlich? Findet es mit anderen heraus. Tragt sie zusammen und schafft Euer eigenes Glossar. Nehmt darin auch gerne Einträge aus dem Glossar auf der Website auf, wenn sie Euch nützlich erscheinen.

Eine Vokabelübung:

  • Kunstwerke und Gebrauchsgegenstände werden in der europäischen Kunstgeschichte hierarchisch voneinander unterschieden. Bei der Herstellung dieser Unterscheidung ist Sprache ein unverzichtbares Werkzeug.
  • Nehmt einen Gebrauchsgegenstand und beschreibt ihn als Kunstwerk. Wählt ein Kunstwerk und beschreibt es als Gebrauchsgegenstand.
  • Welche Wörter benutzt Ihr jeweils? Wie unterscheidet sich das Sprechen? Erweitert diese Übung Euer Vokabular?
Hier findet Ihr weitere Übekarten aus der Kategorie »Kanon«:
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