Der Begriff »Struktur« leitet sich aus lateinisch »structura« (Bauart, Zusammenfügung, Ordnung) ab. Er bezeichnet den inneren Aufbau von etwas in Hinblick auf Stabilität. Strukturelle Gewalt meint die fortdauernde, strukturell bedingte Diskrepanz zwischen Entwicklungsmöglichkeiten und deren Verwirklichung. Zum Beispiel, wenn Menschen ihre Potenziale nicht verwirklichen können, weil sie von formaler Bildung abgeschnitten sind. Anders als bei körperlicher oder sprachlicher Gewalt, ist die strukturelle Beschneidung des eigenen Entwicklungsspielraums schwer zu bemerken und wird häufig als persönliches Scheitern erlebt. Strukturelle Diskriminierung unterscheidet sich ebenso vom individuellen Diskriminierungshandeln dadurch, dass sie gleichsam unsichtbar wirkt – auch dann, wenn die an einer Situation Beteiligten guten Willens sind. Struktureller Rassismus, Sexismus, Klassismus, Ableismus tragen auch an der Schnittstelle von Kunst und Bildung dazu bei, dass bestehende Verhältnisse sich schwer verändern lassen. Im Jahr 2020 scheint weiterhin klar zu sein, wer ein Museum oder ein Theater leitet und wer stattdessen an der Garderobe, im Aufsichts- und Putzdienst arbeitet; wer die Kinder in die Jugendkunstschule oder Musikschule schickt, wer in der Regelschule in der Elternvertretung aktiv ist und für wen Schulen aufgrund massiver, fortdauernder Diskriminierungserfahrungen weniger Möglichkeit als Bedrohung sind.
Oder nicht? In letzter Zeit scheint sich unter den Personen mit Entscheidungs- und Gestaltungsmacht in Kultur- und Bildungseinrichtungen ein kleines bisschen mehr Diversität abzuzeichnen – zumindest gibt es darüber eine verstärkte Diskussion, wenn auch häufig mit Abwehr und Widerständen verbunden. Wie also gestaltet sich das Verhältnis von strukturellen Zwängen einerseits und individueller sowie kollektiver Handlungsmacht andererseits? Ich folge Erklärungsansätzen, die eine wechselseitige Durchdringung annehmen. Lebenschancen sind weder ganz abhängig von Willenskraft und Fähigkeiten, noch sind sie ganz vorgegeben. Strukturen sind zäh, aber sie sind veränderbar. Es lohnt sich, gemeinsam am Abbau struktureller Diskriminierung zu arbeiten – zum Beispiel durch eine entsprechende Organisationsentwicklung in Kultureinrichtungen, wie sie das Projektbüro Diversity Arts Culture in Berlin betreibt. Die Arbeit an Strukturen betrifft dabei unterschiedliche, ineinander wirkende Aspekte.

Da wäre die rechtliche Struktur: Welche juristischen Leitlinien, Möglichkeiten und Vorgaben gibt es? So wurde von der Regisseurin Julia Wissert und der Juristin Sonja Laaser 2018 eine AntirassismusKlausel zum Schutz von Mitarbeitenden in Theatern vor Rassismus entwickelt. Oder die Führungsstruktur: Wie sind Entscheidungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten verteilt? Die Programmstruktur: Wieviel Platz gibt es wann für was in einer Spielzeit, einem Lehrangebot, einem Ausstellungs- und Vermittlungsprogramm? Damit hängt die Wissensstruktur zusammen: Über welches Wissen verfügen Akteur_innen und welcher Wert wird ihm beigemessen? Und die Personal-, Publikums- und Lerner_innenstruktur: Wie ist die Gruppe der Menschen, die auf den verschiedenen Handlungsebenen agieren, entlang der Kategorien sozialer Ungleichheit zusammengesetzt? All dem unterliegen Arbeitsstrukturen: Zeitliche und räumliche Vorgaben, Bezahlung und soziale Absicherung, materielle und immaterielle Ressourcen. Solche Teilstrukturen können in ihrem Zusammenspiel bearbeitet und genutzt werden, um Diskriminierung entgegenzuwirken und sie abzubauen – wenn das diskriminierungskritische Wissen vorhanden ist und der Wille zur Veränderung geteilt wird.

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