Üben
Strukturen
Selbstverortung versuchen
Die Kunstvermittlerin und Hochschullehrerin Henrike Plegge forscht zu Vermittlungsräumen in deutschen Kunstmuseen. Ihr ist aufgefallen, dass diese in der letzten Dekade aus den Kellern und Dachböden der Museen herausgeholt wurden. Kunstvermittlung findet nun für das Publikum sichtbar, in verglasten Räumen oder auf der Ausstellungsfläche statt. Damit stellen sich Museen als öffentlich zugängliche und für alle Teile der Gesellschaft potentiell durchlässige Lernorte aus. Plegge hat die Praxis in diesen Räumen beobachtet und Vermittler_innen befragt. Letztere fühlen sich dadurch zwar stärker kontrolliert, wie sie kritisch bemerken. Manche geben an, dass sich dadurch ihre Praxis verändert, in Richtung Produktion von Vorzeigbarem. Aber dennoch beurteilen sie die Sichtbarkeit positiv, als Zeichen institutioneller Anerkennung. Endlich würde Vermittlung ernst genommen und stünde aufgewertet neben, respektive sogar in der Ausstellung, so der Tenor. Das Versprechen der Diversifizierung des Publikums, das sich mit den neuen Vermittlungsräumen ebenfalls verbindet, erfüllt sich allerdings nicht: Plegge zufolge sind es weiterhin vor allem weiße und bürgerliche Akteur_innen, denen eine_r bei der Kunstvermittlung zuschaut.
Diese Forschungsergebnisse lassen mich darüber spekulieren, ob die erhöhte Sichtbarkeit der Kunstvermittlung nicht sogar dazu beiträgt, dass ihre Publikums- und Personalstrukturen noch homogener werden. Denn Sichtbarkeit ist, wie die Theoretikerin Johanna Schaffer herausgearbeitet hat, ambivalent. Ob das Herzeigen von jemandem als Bestärkung oder eher als emotional belastend erfahren wird, hat auch mit den intersektionalen Achsen der Ungleichheit zu tun. So berichten (ehemalige) Kunstvermittler_innen of Color z.B. von den Rassismen, denen sie bei der Arbeit ausgesetzt sind. Für Menschen mit Körpern, deren Äußeres von der Norm abweicht, bedeutet das Ausstellen von Kunstvermittlung nicht zuletzt, dabei zur Schau gestellt zu sein. Für neurodiverse und chronisch kranke Menschen und für alle, die für die künstlerisch-edukative Tätigkeit Rückzug und Ruhe brauchen, kann es hemmend wirken, in einem Raum mit Publikumsverkehr beim Machen, Sprechen und Denken beobachtet zu werden. Schließlich mögen es manche ablehnen, als sichtbare Lebendbeweise respektive Petitionen für die Diversität des Museums zu fungieren. Vor allem weiße, bürgerliche, der Körpernorm entsprechende, konzentrations- und leistungsfähige, stressresistente Vermittler_innen und Teilnehmer_innen können die erhöhte Sichtbarkeit der Kunstvermittlung genießen. Sie sind die strukturelle Norm, welche die konzeptuelle Basis für diese neuen Räume darstellt. Was nicht bedeutet, dass es darin nicht auch gelingen kann, diskriminierungskritische Sichtbarkeiten zu erzeugen. Die Lösung würde hier entsprechend nicht sein, die Vermittlung zurück in den Keller des Museums zu schicken, oder als Vermittler_in auf die Freude an der Stärkung des Bereichs zu verzichten. Stattdessen würde es darum gehen, über maximale Sichtbarkeit nicht einfach hellauf begeistert zu sein, sondern sich deren Ausschluss- und Kontrollaspekte bewusst zu machen, die eigene intersektionale Selbstverortung mit in die Planung und das Vermittlungshandeln hineinzunehmen. Das könnte zum Beispiel dazu führen, diskriminierungskritisch informierte, unterstützende Kompliz_innenschaften mit den Menschen einzugehen, die aus guten Gründen auf ihrem Recht, nicht sichtbar, erkennbar und lesbar sein zu müssen, bestehen. Dazu, die institutionelle Praxis darauf auszurichten, mit ihnen gemeinsam Zonen der Halbsichtbarkeit und Unsichtbarkeit zu finden, zu erzeugen und zu erhalten und gleichzeitig dafür einzutreten, dass sie, wenn sichtbar, vor Diskriminierung geschützt werden. Es könnte auch dazu führen, gemeinsam an anderen, ermächtigten Sichtbarkeiten zu arbeiten und diese Arbeit zum Inhalt der Kunstvermittlung zu machen. Durch diskriminierungskritische Reflexivität in der Wahrnehmung und im Handeln, nicht durch gläserne Räume, würde es wahrscheinlicher, dass es auch für Menschen mit ge-anderten Körpern attraktiv erschiene, in der Kunstvermittlung zu arbeiten und an ihr teilzunehmen.
- Zeichnet noch einmal eine Power Flower, dieses Mal in Bezug auf Eure Studien- oder Arbeitssituation. Wie wirken sich die verschiedenen Strukturen, in denen Ihr agiert, in Eurem konkreten Fall aus: zum Beispiel die Raumstrukturen, die Wissensstrukturen, die Personalstrukturen, die Zeitstrukturen? Bleibt die Bedeutung der einzelnen Ungleichheitskategorien Eurer Power Flower aus dem Set »Lesen Lernen« gleich oder verändert sich etwas daran? Kommen vielleicht neue Ungleichheitsaspekte dazu? Wenn ja, dann ergänzt diese. Und wie wirken die verschiedenen Kategorien und Aspekte zusammen, um Eure soziale Position in der Situation herzustellen? Versucht, das Zusammenwirken verschiedener Ungleichheitskategorien ebenfalls in Eurer Skizze darzustellen. Welches soziale, kulturelle und ökonomische Kapital bringt Ihr mit? An welchen Stellen profitiert Ihr, wo erwachsen Euch Nachteile? Was bedeutet das für Euer professionelles Selbstverständnis?
- Reflektiert auf dieser Basis: Wie gelingt es Euch, jeweils Eure habituelle Passung herzustellen, also dafür zu sorgen, dass Ihr in die Studien- oder Arbeitssituation hineinpasst, nicht unangenehm auffallt, nicht beschämt werdet, erfolgreich seid? Gelingt es? Versucht, bei dieser Übung in der Wahrnehmung zu bleiben und mögliche Verstörungen, die daraus erwachsen, auszuhalten. Tauscht Euch bei Interesse und Bedarf mit anderen über Eure Erkenntnisse und Fragen, die daraus resultieren, aus.