Die Arbeit an der Schnittstelle von Kunst und Bildung fördert bei den Lernenden »Entdeckungsfreude«, »Problemlösungsfähigkeit«, »Selbststeuerung«. So zumindest wird es von Fördereinrichtungen, Verbänden und in der Literatur beschrieben. Das methodische Repertoire ist darauf ausgelegt: Offene, prozessorientierte Lernformen prägen die Praxis. Kritische Stimmen machen darauf aufmerksam, dass mit diesen Methoden nicht alle Lernenden gefördert werden. Der weiße österreichische Erziehungswissenschaftler Michael Sertl fasst die Kritik knapp zusammen: Offene Lernformen bevorzugen Mittelschichtskinder, die schon von zu Hause aus gelernt haben, wie man lernt; sie sind nicht per se gut, sondern auch hegemonial.

Sehr deutlich wurde mir dies im Jahr 2012 durch JUMP & RUN – Schule als System, einem Kooperationsprojekt zwischen Schulen und Theatern in Berlin, das ich aus der Ferne beobachtete. Darin arbeiteten mehrheitlich nicht aus der Mittelschicht kommende Schüler_innen zusammen mit Theaterkünstler_innen an Aufführungen, die sich kritisch mit Schule auseinandersetzten. Besonders beschäftigte mich eine Aufführung mit dem Titel Abschlussknall, in der sehr wenig passierte. Das Publikum wurde von den Schüler_innen auf eine harte Probe des Aushaltens von Langeweile gestellt. Der Theaterkünstlerin schien es gelungen zu sein, mit den Schüler_innen zu einer Reflexion des eigenen Verhältnisses zum Projekt zu kommen. Das Resultat lese ich als Spiegelung der leistungsorientierten Erwartungen des Publikums, der Schule und des Theaters. Das wäre für mich ein Beispiel für das Unterbrechen hegemonialer Adressierungen auf der künstlerisch-pädagogischen Ebene. Leider wurde im Anschluss an die Aufführung der Versuch unternommen, diese Unterbrechung rückgängig zu machen: Die Jugendlichen wurden gedrängt, sich zu einer Publikumsdiskussion auf der Bühne einzufinden. Kaum etwas ist im Theaterbetrieb hegemonialer als dieses Ritual bürgerlicher Öffentlichkeit. Die Jugendlichen unterbrachen diese Adressierung ihrerseits: Sie gaben keine Auskunft. Die Stimmung war schlecht.

Eine andere Geschichte: Im von mir mitentwickelten Projekt Die Remise – Archivraum, Ausstellungsraum, Lernraum, Begegnungsraum an der Nürtingen Grundschule hatten Schüler_innen zusammen mit zwei PoC-Grafikerinnen Entwürfe für das Projektlogo gestaltet. Die Grafikerinnen gingen kleinschrittig vor und zeigten den Kindern genau wie ein Logo entsteht. Es ging ihnen darum, den Schüler_innen das Handwerk zu vermitteln, wie eine_r überhaupt zu einer eigenen Idee kommen kann. Alle Entwürfe waren beeindruckend; sie wurden in der Remise ausgestellt und gewürdigt. Das Logo von Talha Bekiroğlu aber wählten wir aus, denn es gab die Vielschichtigkeit des Projektes besonders gut wieder. Es landete auf der Website, auf den Flyern und Plakaten. Talha sagte zu mir, dass er in der Schule noch nie der Beste gewesen wäre und dass er überrascht und stolz sei, dass sein Logo nun überall in der Stadt hänge. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Die Stimmung war gut. Gleichzeitig blieb mir ein leises Unbehagen: War das jetzt die kritische Arbeit, die ich wollte?

Beide Geschichten haben gemeinsam, dass sie innerhalb der Leistungsgesellschaft und – dieser entsprechend – in der Logik von Ergebnispräsentation und Wettbewerb stattfinden. Die oben genannten Bildungsideale machen dafür fit. Verweigerung und die Freude am Entsprechen sind beides Antworten, die Lernende im Rahmen dieser Verhältnisse geben. Die Arbeit an Schnittstellen von Kunst und Bildung gibt das Versprechen, dabei zu unterstützen, innerhalb bestehender Verhältnisse den eigenen Weg, die eigene Position zu finden. Manchmal leistet sie gerade durch Affirmation eine Unterbrechung hegemonialer Verhältnisse – nämlich dann, wenn dabei Räume zu kollektiver und individueller Selbstartikulation oder Selbstermächtigung entstehen, die nicht paternalistisch sind. Für mich bedeutet diese Komplexität eine Einladung an Konflikte: zum Beispiel eine gleichschwebende, skeptische Aufmerksamkeit gegenüber meinen eigenen Vorlieben (z.B. gegenüber Methoden, gegenüber Lernenden) zu entwickeln. Es bedeutet für mich auch, kritisch informierte Kolleg_innen zur Mitarbeit einzuladen, die durch ihre Subjektpositionen anderes Wissen verkörpern und weitere Perspektiven einbringen. Und vor allem bedeutet es, wann immer möglich, Bildungsideale und Ansprüche mit der Lerngruppe zusammen festzulegen; Bildung selbst mit zum Verhandlungsgegenstand zu machen.

Anregungen für die Recherche
  • Versucht, Euch über Eure Bildungsideale klar zu werden: Schreibt sie auf. Erinnert Euch an Situationen, in denen Ihr mit Euren Bildungsidealen an Grenzen gestoßen seid. Nehmt aus diskriminierungskritischer Perspektive eine Revision dieser Erfahrungen vor.
  • Macht einen Versuch, eine hegemoniale Anrufung in Eurem Tätigkeitsfeld zu analysieren und zu unterbrechen, indem ihr methodisch etwas an Eurem Vorgehen verändert. Es kann auch etwas Kleines, fast nicht Wahrnehmbares sein. Zeichnet auf, was passiert. Wenn Ihr die Möglichkeit habt, tauscht Euch mit anderen über Eure Erfahrung aus. Erweitert damit Euren Methodenpool.
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