Üben
Kanon
doing difference verstehen
Hierarchische Unterscheidungen, wie die zwischen »angewandter« und »freier« Kunst, zwischen »Genie« und »Dillettant_in«, sind nicht naturgegeben, sondern gelernt. Ab der Moderne dienten sie als Begründung, weiße Frauen nicht als professionelle Künstler_innen anzuerkennen oder Kolonisierten den Status des vollwertigen Menschseins abzusprechen – mit dem Argument, diese seien jeweils auf der Entwicklungsstufe von Kindern oder gar Tieren und daher unfähig zu künstlerischen Hervorbringungen und zur Ausbildung von Kunstsinn. Sexistische, klassistische und rassistische Wissensordnungen wirken bis heute in der Kanonbildung, und genauso wirkt darin soziale Reproduktion: Weiterhin stammen die meisten Werke des westlichen künstlerische Kanons – sei es die Musik, die bildenden Künste, das Theater, der Film – von weißen Cis-Männern, die weiterhin wiederum vor allem solche kanonisieren – zum Beispiel im Rahmen von Auswahl- und Ankaufskommissionen, Auktionen, Preisjurys, Kritiken und Publikationen.
Ein mich anregendes Beispiel, einen Kanon umzudeuten und Dominanzverhältnisse dadurch zu spiegeln, ist die Neuinterpretation der europäischen Kunstgeschichte durch Be_Hinderung, wie sie Tobin Siebers vorschlägt. In seinen Essays, die unter dem Titel Zerbrochene Schönheit ins Deutsche übersetzt worden sind, steht, dass die Entwicklung der westlichen Ästhetik seit der Antike bis in die Gegenwart nicht denkbar wäre, ohne die durchgängige Darstellung von be_hinderten und versehrten Körpern. Die Darstellung der Abweichung von der Norm sei eine Grundlage bei der Verhandlung was als schön gelte. So deutet Siebers beispielsweise die Fragmentiertheit (Armlosigkeit, Beinlosigkeit, …) antiker Skulpturen als Verletztheit. Spätestens seit den künstlerischen Avantgarden wiederum seien Siebers zufolge die Abweichung und Überschreitung von Normen selbst die Basis von Kunstproduktion.
Indem er eine minorisierte Perspektive zum Ausgangspunkt der Gesamtbetrachtung macht, stellt Siebers die gewohnten Deutungen und Bedeutungen des etablierten Kanons der Bildenden Kunst auf den Kopf. Dadurch ändert sich der Blick auf diese Kunstwerke grundlegend. Denn Siebers setzt am Kern der Sache an: an den unhinterfragten Voraussetzungen des sicher geglaubten Wissens. Er zeigt mir als Leserin den Ableismus, der in meinem Über-Sehen liegt: Ich mag die sich wandelnden Schönheitsideale, die seit der Antike durch die Kunst überliefert werden, kennen und machtkritisch reflektieren. Aber ich vergesse dabei, dass auch die Art und Weise, wie diese Schönheitsideale beschrieben und erzählt werden, selbst nicht naturgegeben, sondern sozial hergestellt und gelernt ist – und entlang von Ungleichheitsachsen wie Be_Hinderung, Geschlecht, Rassifizierung oder Klasse geschieht.
Welche Lücken im Bestand nehmt Ihr in den Kanons Eurer eigenen Tätigkeits- oder Studienfelder wahr? Was haben die Lücken mit den Achsen sozialer Ungleichheit zu tun? Wer arbeitet in Eurem Bereich gegen Auslassungen im Kanon? Auf welche Weise geschieht das? An welchen Stellen ist der Kanon umkämpft und mitunter durchlässig – wer kommt auf welche Weise neu in den Kanon hinein? Könnt Ihr auch gelernte Leerstellen und Konventionen in der Betrachtungsweise selbst erahnen, ähnlich wie bei dem Beispiel von Tobin Siebers? Erlebt Ihr bei dieser Recherche Überraschungen, lernt Ihr Unerwartetes? Lösen die Diskussionen, die Ihr dabei vielleicht führt, Konflikte aus? Versucht, in Eurem Forschungstagebuch die Komplexität der Verhältnisse aufzuzeichnen.