Ein Kunstmuseum wirbt für seine Vermittlungsangebote. Zwei Bilder sind auf der Website nebeneinander zu sehen. Das eine trägt den Untertitel »Für Erwachsene«, das andere trägt den Untertitel »Für besondere Menschen«. »Erwachsene« zeigt die Rückenansicht eines Arm in Arm stehenden heterosexuellen Paares in der zweiten Lebenshälfte, welches sehr sorgfältig frisiert und in Sakko und Blazer gekleidet ist. Es ist in die Betrachtung eines Kunstwerks versunken. Die einander zugeneigten Köpfe umgibt das helle Oberlicht des Museumsraumes, fast wie ein Strahlenkranz. Auf dem Bild »Für besondere Menschen« wird eine Frau in etwa dem gleichen Alter gezeigt. Sie trägt einen Pardösü und ein Kopftuch. Sie sitzt alleine im gleichmäßig ausgeleuchteten Vermittlungsraum des Museums an einem Tisch voller Farbflecken und ist mit einer Bastelarbeit beschäftigt. Sie ist seitlich von oben aufgenommen, als hätte jemand beim Fotografieren über ihr gestanden.

Obwohl auf beiden Bildern Erwachsene zu sehen sind, wird die Frau im Vermittlungsraum durch die Bezeichnung, den Aufnahmewinkel und die Gegenüberstellung verkindlicht und ge-andert. Die generalisierende Bezeichnung »Erwachsene« lässt dagegen das weißsein, die Körperformen, die Bürgerlichkeit und die Heterosexualität der nebenan abgebildeten Personen unmarkiert: sie stehen für »Erwachsensein« an sich, für die Norm des Erwachsenseins. Diese Website fiel meinem Kollegen Stefan Fürstenberg vor einigen Jahren auf, als er einen erläuternden Text zum Thema »Repräsentationskritik« speziell für Kunstvermittler_innen verfasste. Repräsentationskritik ist ein analytisches und künstlerisch-aktivistisches Werkzeug, um hegemoniale Adressierungen in einem Kanon zu erkennen und zu unterbrechen – hier im Kanon der Darstellungen von Arbeit an der Schnittstelle von Kunst und Bildung. Genauso wie künstlerische Kanons ist er durchzogen von den intersektionalen Achsen der Ungleichheit. Das Hegemoniale der Adressierung zeigt sich in diesem Beispiel gerade daran, dass die Vermittler_innen die Darstellung gut gemeint haben. Sie wollten zeigen, dass alle Menschen in ihrem Programm willkommen sind. Dass sie dabei hegemoniale Adressierungen reproduzieren, ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel, weil bislang diskriminierungskritisches Wissen fehlt und eine repräsentationskritische Reflexion von Darstellungsweisen kaum geübt wird.

Voraussetzung für die Arbeit der Repräsentationskritik ist ein gewisses Herrschaftswissen: Nur wer um die dominanten Darstellungsweisen weiß, ist auch in der Lage, sie zu erkennen, zu kritisieren und zu verändern. »Wissen« kann hier akademische Bildung genauso wie eigene Erfahrung bedeuten. Ein Beispiel, in dem Jugendliche Repräsentationskritik praktiziert haben, ist das Vermittlungsprojekt Anders sein, das 2018 im Bode Museum in Berlin stattfand. Schüler_innen einer 7. Klasse beschäftigten sich mit Fragen wie »Wie werden Skulpturen gezeigt? Welche Skulpturen werden ausgewählt und warum? Was bedeutet gleichwertig? Was bedeutet anders sein?« Sie setzten sich mit Rassifizierung, Klassismus, Schönheitsidealen und Sexismus auseinander. Es entstanden dabei z.B. Gipsabgüsse der eigenen Köpfe, die auf Sockeln zusammen mit den Skulpturen und Gemälden der Sammlung gezeigt wurden. Darunter waren auch Abgüsse von Kleidung ähnlich wie die der Frau auf dem ge-anderten Bild aus dem ersten Beispiel. Hier jedoch waren die Repräsentationen selbstbestimmt und auf den ersten Blick kaum von den durch Kurator_innen autorisierten Sammlungsstücken zu unterscheiden. Es handelte sich um eine repräsentationskritische Re-Aneignung des hegemonialen Museumsraumes, der ansonsten ein weißes, bürgerliches, erwachsenes Publikum adressiert. Eine solche subversive Aneignung verändert die strukturell verankerten, historischen Gewaltverhältnisse eines Museums nicht. Aber ich möchte sie hier als diskriminierungskritisches und selbstermächtigendes Bildungsgeschehen betrachten, das hegemoniale Adressierungen auf der Repräsentationsebene unterbricht.

Anregungen für die Recherche

Habt Ihr schon einmal ein Projekt an der Schnittstelle von Kunst und Bildung dokumentiert? Wenn ja, schaut Euch die Dokumentation noch einmal an und versucht eine repräsentationskritische Analyse. Wenn nein, findet ein publiziertes Beispiel gedruckt oder online und analysiert dieses. Schreibt eine Liste mit Arbeitsprinzipien für kritisches Dokumentieren an der Schnittstelle von Kunst und Bildung.

Kennt Ihr Beispiele für Projekte an der Schnittstelle von Kunst und Bildung, die repräsentationskritisch agiert haben? Fügt die Beispiele Eurer Sammlung hinzu.

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